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Eine Stimme hört man selten

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Bei den Vereinten Nationen ist Bescheidenheit ein seltenes Pflänzchen. So mancher Staat traut sich mehr Weisheit und mehr Berufung zum Lehramt zu, als seinen geistigen Mitteln entspricht. Junge Staaten ohne historische Erfahrung tragen mit jugendlichem Eifer vor, mit welchen Mitteln, auf welchen Wegen, zu welchen Zielen die Welt fortzuschreiten habe. Jemen, wo Alphabetismus schon zum Staatsamt berechtigt; Indonesien, in dem die Javaner alle Fehler der Tschechen gegenüber den anderen Staatsvölkern nachmachen; Ghana, das, kaum gegründet, schon üble Gesetze des verhaßten Südafrika kopiert, wollen Ländern mit jahrhundertealter Erfahrung, wie Holland, Schweden oder England, in der Behandlung schwieriger internationaler Probleme Belehrungen erteilen. Diese Erörterungen werden von leeren Schlagworten, wie „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“, „Kolonialismus“, „Imperialismus“, „Ausbeutung“, durchschwirrt. Die größte und rücksichtsloseste Kolonialmacht unserer Zeit fördert jeden gefährlichen Unsinn, um heute Freunde zu gewinnen, die sie morgen versklaven kann. Nein, Bescheidenheit findet am Steinturm am East River keinen fruchtbaren Boden.

Nur eine Stimme hört man selten, zu selten, obwohl sie mehr zu sagen hätte, als manche andere, die von stärkeren Stimmbändern, größerer Bevölkerung, weiteren Gebieten getragen wird. Abstimmen ist nicht das Wichtigste, das eine von 82 Stimmen tun kann. Oesterreich hat als Mitglied der Vereinten Nationen eine größere Berufung, als ein kleiner Staat unter 82 größeren und kleineren Staaten zu sein. Man sollte es bemerken, wenn es da ist, und vermissen, wenn es fehlt.

Dieses Oesterreich hortet einen wertvollen Schatz, mit dem es wuchern kann: es ist unabhängig. Es bettelt nicht, es raubt nicht, braucht seine Stimme weder verkaufen noch eintauschen, es kann also ehrlich reden. Das hat schon Seltenheitswert. Es hat auch eine geschichtliche Erfahrung, die weiter zurückreicht als die von etwa 70 anderen Staaten. Selbst Vertreter ältester Staaten, wie Aethiopien oder China, sind an Erfahrung im modernen Zusammenleben der Völker jünger als Oesterreich.

Gewiß. Alter ist nicht alles. Aber von den drei Faktoren, die den Charakter eines Volkes vornehmlich bestimmen: Lage, Alter und Dichte, ist Dichte Zivilisations-, Alter Kulturfaktor. Wenn die Kultur eines Volkes nicht so gründlich zerstört wird, daß es von vorne anfangen muß — wie Rußland nach den Tataren, Griechenland nach den Türken, Argentinien nach Rozas, Paraguay nach Francia —, dann schafft historische Erfahrung Weisheit, Gerechtigkeit, Achtung vor dem Rechte des anderen, alles das, was Kultur bildet.

Ist nun Oesterreich ein junges oder ein altes Land? Datiert es von der Gründung der Republik vor vierzig oder gar von der Befreiung von der Fremdherrschaft vor dreizehn Jahren, oder datiert es Jahrhunderte, bis zur Gründung Ostarichis, zurück? Hat es seine geschichtliche Tradition vergessen “~ oder verleugnet es sie? Ist der historische Faden mit seinen Schicksalsknoten und seiner Buntheit in der Zeit, in der-so viele Völker in der Monarchie ein wohnlicheres Haus fanden, als sie es sich selbst bauen konnten, von der Hand der Geschichte 1918 oder 1938 zerrissen worden?

Darauf können nur die Qesterreicher die Antwort geben, und von dieser Antwort hängt Oesterreichs Stellung unter den Völkern und bei den Vereinten Nationen ab. Zu Hause mag der alte Kulturboden Oesterreichs geschrumpft sein, aber er ist nicht verschwunden. Das neue Oesterreich handelt weise, sich durch Männer und Frauen im Auslande vertreten zu lassen, die in diesem alten Kulturboden wurzeln. Wie wohltuend stechen sie von denen mancher anderer Länder abf Wieviel höher stehen sie in der Pyramide der Diplomaten, als Oesterreich in der Pyramide der Staaten, wenn man diese nach Größe und Bedeutung schichtet! Man sollte sie aber öfter hören.

Die Geltung einer Stimme bei den Vereinten Nationen soll nicht davon abhängen, wie viele Menschen sie vertritt, sondern was sie zu sagen hat. Davon, ob sie die historische Erfahrung, daß jedes Unrecht sich einmal rächt und daß heute auch die Mühlen der Geschichte rascher mahlen, so daß man sich im Augenblick der Strafe noch an die Schuld erinnern kann, dazu nützt, um vor Unrecht zu warnen, auch wenn es kurzfristigen und kurzlebigen Gewinn zu versprechen scheint. Ob sie in einem Staatenkreise, in dem nicht Argumente gewogen, sondern Stimmen gezählt werden, immer für den Schwächeren oder den ungerecht Angegriffenen oder den unbillig Geschädigten eintritt, auch wenn er sich nicht der Sympathie und Hilfe der einzelnen Stimmblocks erfreut. Ob man, wenn man sich anschickt, aus vermeintlicher diplomatischer Geschicklichkeit Unrecht zu begehen, gewärtigen muß, daß sich da eine Stimme erheben wird, die die alten Weisheiten: „Ehrlich währt am längsten“, „Du sollst weder morden noch rauben“, „Man muß den Schwachen gegen die Gewalt des Stärkeren schützen“, ohne die ein friedliches Zusammenleben weder von Menschen noch von Völkern möglich ist, ungescheut vertritt.

Ein solches Gewissen der Vereinten Nationen fehlt. Die Mission Oesterreichs hat sich im Zuge der Geschichte öfter gewandelt. Wäre es heute nicht eine schöne Mission des nicht mehr großen, nicht mehr mächtigen Oesterreichs, das Gewissen der Vereinten Nationen zu werden?

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