6874308-1978_38_14.jpg
Digital In Arbeit

Mit den Augen einer Fremden

19451960198020002020

Das soeben im Wiener Herold-Verlag erschienene Buch „Briefe einer Jüdin aus Cuzco“ ist das faszinierende Ergebnis einer faszinierenden Begegnung des deutschen Schriftstellers Hans Joachim Seil mit einer deutschen Emigrantin, die er in Südamerika traf. Sie schildert das Land, in dem sie Zuflucht fand, mit scharfem Blick, aber großem Verständnis, und man erfährt aus diesem Buch viel über Peru - und viel über die psychologischen Bedingungen des Lebens in einem fremden Land.

19451960198020002020

Das soeben im Wiener Herold-Verlag erschienene Buch „Briefe einer Jüdin aus Cuzco“ ist das faszinierende Ergebnis einer faszinierenden Begegnung des deutschen Schriftstellers Hans Joachim Seil mit einer deutschen Emigrantin, die er in Südamerika traf. Sie schildert das Land, in dem sie Zuflucht fand, mit scharfem Blick, aber großem Verständnis, und man erfährt aus diesem Buch viel über Peru - und viel über die psychologischen Bedingungen des Lebens in einem fremden Land.

Werbung
Werbung
Werbung

Sie wissen, daß es nicht unproblematisch ist, wenn man als Jüdin, die 1938 beinahe fluchtartig das Land verlassen hat - jenes Deutschland von damals - wieder mit Deutschen zusammentrifft, Deutschen von drüben. Ich war schon eine verheiratete Frau, als wir vor Hitler flohen, Sie waren 18 Jahre alt und gerade von der Schule gekommen, wie Sie mir erzählt haben.

Ich habe nach dem Krieg Deutschland wiedergesehen, das ist nun auch schon wieder lange her. Ich hatte nicht das Bedürfnis, nach dort zurückzukehren. Obwohl ich, das will ich gar nicht verschweigen, voll Bewunderung bin für den Aufbau Ihres Landes nach dem entsetzlichen Krieg. Und die Bewunderung für diese Leistung ist um so größer, weil ich in einem Land wie Peru lebe, in dem es nicht den Schatten von solchen Leistungen gibt, auch nicht von dieser sogenannten Revolutionsregierung werden sie erbracht, bei der ich mich frage, was wohl unser Schicksal sein wird. Ich habe immer meine Zweifel, wenn Generale ein Land regieren. Und man kann selbst nach sieben Jahren noch nicht sagen, wohin das alles führen wird. Man ändert viel. Doch Sie haben sich ja umgesehen und wissen, wieviel Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung es noch gibt.

Anderseits: Peru hat mir damals eine Heimat geboten. Nennen wir es Heimat. Man konnte zur Ruhe kommen. Man mußte zwar wieder ganz von vorn anfangen, aber man konnte nicht umgebracht werden. Ich werde es diesem Land nie vergessen, daß es uns aufgenommen hat: doch - ich habe mich, ich sage es Ihnen ehrlich, nie eingewöhnen können. Ich bin eine Fremde geblieben.

Ich habe die Zettel, die ich Ihnen schicke, in Etappen geschrieben. Tun Sie damit, was Sie wollen. Aber denken Sie daran: ich bin eine Jüdin und eine Emigrantin. Ich habe nicht studiert, aber ich habe meine deutsche Sprache behalten, das ist das, was ich von Deutschland eigentlich liebe: die deutsche Sprache. Spanisch habe ich hier gelernt, Quechua, die Sprache der Indios, spreche ich nicht, vielleicht hätte ich sie lernen sollen. Nun, ich bin heute alt, ich werde sie nicht mehr lernen.

Ich habe im großen und ganzen sehr wenig unmittelbaren Kontakt mit Peruanern gehabt. Die Oberschicht, wie ist sie? Nun, sehr gute Manieren, sehr höflich und sehr unpersönlich „mi casa, su casa“ - „Mein Haus ist Ihr Haus“ -, doch es ist nichts dahinter. Jahrelang habe ich darüber gegrübelt, ob ich es war, der den Anschluß nicht

Ich habe im Umgang mit diesem Mittelstand in Peru drei Eigenschaften kennengelernt: Unaufrichtigkeit, Heuchelei und einen erschütternden Mangel an Integrität, das heißt: Lauterkeit. fand, oder ob sie es waren, die ihn nicht suchten. Ich kam zu der Erkenntnis, daß die Peruaner es waren, die den Anschluß nicht mochten. Bei meinem Mann lag es insofern anders, als er seinen Geschäften nachging, das ist dann der übliche Verkehr wie überall auf der Welt, und es gab ja die anderen jüdischen Geschäftsleute, auch die jüdischen Ärzte, die sich in Peru einen Namen gemacht haben und viel und gern konsultiert werden . . .

Am Ende dieses ersten Briefes will ich Ihnen etwas sagen, was vielleicht schrecklich klingen wird in Ihren Ohren. Aber Sie verlangten Aufrichtigkeit. Denken Sie bitte über das nach, was ich jetzt schreibe, es klingt hart, aber es ist aufrichtig, und es ist, weiß Gott, nicht leicht hingesagt. Ich habe im Umgang mit diesem Mittelstand in Peru drei Eigenschaften kennengelernt: Unaufrichtigkeit, Heuchelei und einen erschütternden Mangel an Integrität, das heißt: Lauterkeit.

Ich habe geschrieben, daß ich die peruanische Frau, die einfache Frau, bewundere. Ich kann Ihnen das anschaulicher machen, weil ich bei Freunden von uns einen ,,Fall“ beobachtet habe, der mir nähe gegangen ist. Dort arbeitet als Hausmädchen eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren. Sie wurde 1973 an Krebs operiert, sie hat Strahlenbehandlung bekommen und ist nun wieder tätig. Da sie Lebensmut und einen starken Willen besitzt, lebt sie weiter, ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt weiß, was ihr gefehlt hat. Ich glaube, daß der Wille viel ausmacht, um ein solches Leiden bekämpfen zu können. Und was für ein Leben hat sie geführt! Sie hat sich mir einmal anvertraut, wir kennen uns eben schon sehr lange. Welch eine Geschichte!

Sehen Sie - mit siebzehn Jahren wurde sie irgendwo in der Sierra vergewaltigt. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, denn ihre Mutter war eine schlechte Frau; es war ein anderer Mann da, nicht mehr ihr Vater, und dieser Mann wollte nichts von ihr wissen. Sie hat auch nie erfahren, wer der Vater ihrer Tochter, die dann zur Welt kam, gewesen ist, weil die Vergewaltigung im Dunklen geschehen war.

Wie so viele andere aus der Sierra ging sie nach Lima. Die Illusion ist, Lima sei eine Art Mekka. Lima sei eben eine große Stadt, und dort könne man sein Glück machen. Wie viele arme Leute aus den Anden sind nach Lima gegangen und wohnen schon jahrelang in den Slums, den „Bariadas“!

Aber sie kam als Hausmädchen in einer Familie unter. Dann heiratete sie einen „moreno“, wie sie hier sagen -wenn er nicht ganz schwarz ist, sagt man „moreno“, wenn eben einer dunkler ist -, und bekam noch einmal fünf Kinder. Als sie vierzig Jahre alt war, zeugte er ihr wieder ein Kind, die letzte Tochter, und verschwand, er lebt jetzt mit einer anderen Frau. Da sie legal verheiratet war, hätte sie den Mann gerichtlich belangen können. Doch es gibt Tausende von Fällen dieser Art! Es ist mühsam. Es kostet Geld und Geduld. Also hat sie keine Unterstützung für sich und die minderjährige Tochter. Ein Sohn und eine Tochter, die beide arbeiten, helfen ihr, und sie ging mit den Freunden von uns, die von Lima nach Cuzco umzogen -meine Freundin ist asthmatisch -, hierher in ihre heimatliche Gegend zurück.

Sie ist eine intelligente Frau, wenn auch Analphabetin. Ich freue mich immer, wenn ich sie bei unseren Freunden sehe: sie ist stets guter Laune, nie mißmutig, wie so viele Indio-Frauen oder Cholas. Ich schätze sie. Ich lasse ihr gelegentlich Hilfe zukommen, und sie weiß das. Sie hat einen angeborenen Schönheitssinn. Sie sollten einmal sehen, wie sie die Wohnung unserer Freunde pflegt. Sie liebt Blumen über alles. Sie ist sogar-welch eine Ausnahme! - anhänglich an ihre Brot'geber.

Und sie ist eine aufopfernde Mutter. Das, was sie als Kind entbehrt hat, gibt sie nun ihren Kindern als Ausgleich.

BRIEFE EINER JÜDIN AUS CUZCO. Eine dokumentarische Erzählung aus dem heutigen Peru von Hans Joachim Seil. Verlag Herold, Wien 1978, 136 Seiten, öS 128,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung