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Die Wienerin

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Wienerinnen gibt es natürlich viele, aber gibt es heute noch die eine, „die Wienerin“? Hinter diesem Namen, der ein Begriff geworden ist, verbirgt sich eine Wirklichkeit, denn ihr Ruf ist über die Sprachgrenzen in die Welt gedrungen. Und so gibt es wohl im ähnlichen Sinn noch den Begriff der „Pariserin“, vielleicht noch eine „Venezianerin“, aber keine „Londonerin“, keine „Moskauerin“, dafür aber eine „Berlinerin“, deren Ruf aber nie die Sprachgrenzen überschreiten konnte.

Wie ist eigentlich dieser Ruf der Wienerin entstanden? Nicht nur die großen, österreichischen Komponisten haben dazu beigetragen, nein, er liegt tiefer, und ich glaube, daß wir den Grund zu diesem Ruf in der Vielfalt eines Volkes zu suchen haben, eines Volksganzen, das in der alten Monarchie geeint war, und in den zauberhaften Landschaften, angefangen vom Südosten im Karst, bis hinauf zum Westen Tirol sich ausbreitete und in Wien sein Zentrum hatte. Dieses reiche Land war die Stätte der Ahnen unserer Wienerin, sie ist hervorgegangen aus der Mischung vieler Völker der alten Monarchie, der großen/kaiserlichen Armee, die in all diesen Ländern wandernd zu Hause war.

So war eben die Wienerin gar nicht beschränkt nur auf Wien, sie lebte mehr oder weniger in allen diesen Landschaften, in deren Städten, Agram, Budapest, Prag, Salzburg, Linz, Graz, Klagenfurt, Innsbruck, Bozen und sogar — Venedig. Ich selbst habe mich als eine solche Mischung empfunden, da ich meine Ahnen sowohl von Böhmen, Ungarn als auch Italien ableiten konnte, und ich fühlte mich so zu Hause in diesem Österreich-Ungarn, in seiner slawischen und ungarischen Musik, wie in der Musik Mozarts, Schuberts, Strauß' und Lanners. Und dieser Blumenstrauß einer Vielfalt der Nationen konnte die Kraft haben, seinen Duft über die Sprachgrenzen zu tragen, und bewirken, daß auch die Agramerin wie die Salzburgerin sich als „Wienerinnen“ erkennen durften, wie gleicherweise die Wienerin der Budapesterin und Brünnerin sich verwandt empfinden konnte.

Dem hat aber der erste Weltkrieg eine Grenze gesetzt, und wie stark sich diese Mischung im positiven Sinn weiter fortsetzen wird, wie lange noch die Wienerin in sich den Gesang der Ahnen hören wird, das können wir heute nicht sagen und auch nicht voraussehen, was aus dieser Vereinzelung oder aus neuen Bindungen sich entwickeln wird.

Und was ist nun das Besondere der Wienerin, das in dieser Mischung vieler Nationen sich uns darbietet? In erster Linie, glaube ich, das glückliche Maß ihres Wesens, und dann etwas, ich möchte sagen, fast Ländliches, das sich nie ganz verleugnete und um so reizvoller war, je gepflegter und sicherer die äußere Form war, in der die Wienerin uns entgegentrat. Und dieser Art glücklich verbunden war auch ihre Veranlagung zur Heiterkeit, jene Heiterkeit, die von vielen noch als Lustigkeit mißverstanden worden ist, die sich in Wahrheit aber nicht aus Lustigkeit, sondern aus dem Ernst ihres Wesens hob und wandelte, wie sich die Blüte, der dunklen Erde entsprossen, dem Licht öffnen darf.

Diese heiter Art konnte ich schon in meiner Jugendzeit an meinen Kolleginnen im Opernballett bemerken, die alle eifrige Tänzerinnen waren und, betreut und gehuldigt von den jungen Söhnen der Aristokratie, eigentlich nur einen Wunsch hatten, einmal eine gute Ehefrau und rechte Mutter zu werden. Ihr aller Vorbild aber sahen sie in der wirklichen Dame. Und so scheint mir auch, daß hier in Österreich der Begriff der Kurtisane in den Frauen nie so recht zum Ausdruck kam, weil das, was der Wienerin von der Natur so reich eingeprägt ist, ihr nicht aus dem Dämonischen der Natur, sondern aus ihrem Fruchtenden, zur'Ordnung Strebenden geschenkt worden ist. Daraus dürfte sich eine andere gute Eigenschaft der Wienerin herleiten lassen, ihr glückliches Gleichgewicht in Fragen der Freiheit und Gebundenheit. So scheint mir die Wienerin der vergangenen Zeit. Und nun komme ich endlich dazu, von der heutigen Wienerin zu sprechen. Wir leben, in der Zeit einer großen Umsdiichtung der Stände. Der Begriff des Wiener Wäscher-mädls zum Beispiel dürfte wahrscheinlich nur mehr in der alten Operette leben, denn das Wiener Wäschermädl im alten Sinn gibt es wohl kaum mehr. Wir alle sind mehr oder weniger unsere eigenen Wäscher-mädln, Köchinnen und Schneiderinnen. Meine Tanzgruppe — sie weiß etwas davon, denn was sie als Tageskleidung trägt, ist meistens aus ihrer eigenen Hand hervorgegangen, noch kann sie es sich nicht leisten, diese Arbeit besseren Schneiderinnen zu überlassen, und muß dies selbst tun, neben ihrem, sonst sehr anstrengenden Beruf. Und da komme ich darauf, daß viele Wiener Frauen heute in Berufen stehen müssen, und das hat in manchen Lebensfragen zu großen Veränderungen geführt. Meine einstigen Ballettkolleginnen landeten schließlich alle in der Ehe. Wie sich aber die Lebensumstände in der heutigen Jugend darstellen, so hat sie es sehr schwer, noch Kraft für die Ehe aufzubringen. Und das birgt so manche Gefahr, Gefahren der Freiheit, die nicht verliehen, sondern genommen wird._ Und wer hat schon Ernst und Kraft dafür, in die sich selber gestattete Freiheit auch die Verantwortung einzubauen? Und besonders auch deswegen, weil heute ein großer Teil der Wienerinnen keine Bindung nach oben, keine Religion hat.

Das wurde mir eigentlich das erstemal so recht klar, als vor fünf Jahren zu Ostern einige meiner Schülerinnen mich besuchten, um mir Blumen zu bringen. Aus diesem Besuch, der nicht auf eine längere Dauer hinzielte, wurde ein Beisammensein von vier Stunden, weil wir in erregten Gesprächen der Zeit ganz vergaßen. Ich hatte damals gerade ein wunderbares Buch über das Leben einer Heiligen gelesen und, noch ganz unter dem Eindruck dieses Buches, davon zu sprechen begonnen — und erlebte nun die Fragen und Aussprüche dieser jungen Geschöpfe. Die eine sagte etwas beschämt ... „Verzeihen Sie, gnädige Frau, c aber für mich ist Christus gar kein Begriff“ ... die andere sprach vom „Theater vorm Altar“, die dritte aber fragte nachdenklich, ernsthaft... „Gnädige Frau, wie wird man ein Heiliger?“

Diese Frage löste meine Bestürzung und mein Staunen aus. Christus kein Begriff ... ja sie waren doch alle gleich mir in die Schule gegangen und hatten, wie ich glaubte, auch die Religionsstunde besucht. .. oder waren sie ausgeblieben? Die Frage nun, wie man ein Heiliger wird, bemühte ich mich, so gut ich konnte, zu beantworten.

Zugleich aber wurde mir bewußt, daß sie ja noch viel zu jung waren für meine Reden, kaum noch von der irdischen Liebe und wie viel weniger von der himmlischen etwas verstehen konnten, und das auch deswegen nicht, weil ja in ihrer Kindheit, wie ich ihren Reden entnommen hatte, kein Keim für die göttliche Saat gesät worden war. Und das war -anders als in meiner Kindheit. Auch ich lebte, wie sie, in meiner Kindheit und Jugendzeit abgeblendet vom eigentlich Wirklichen, aber ich weiß, daß, wenn es wem eingefallen wäre, mir von dieser Heiligen zu erzählen, ich dies überwältigt, ohne Fragen, hingenommen hätte, weil am Grund meiner Kinderseele das Himmlische schlummerte und wartete, erweckt zu werden.

Und das ist der Unterschied ihrer und meiner Generation. Ein ernstzunehmender Untersdiied..., denn wenn wir glauben, über die Heiligen hinwegsehen zu können, keine Ehrfurcht mehr aufbringen, um zu hören, was uns von ihrem Wirken erzählt, berichtet wird, das würde über die Wienerin ein strenges Urteil heraufbeschwören, würde ihr die Eigenschaft absprechen, in Wahrheit heiter sein zu können. Denn, wenn wir nur an das glauben, was uns im Irdischen begrenzt und von uns eben als nur irdisch bejaht werden kann, so würden wir der Gefahr zutreiben, unsere Grenzen ins Chaotische zerfallen zu sehen ... und uns noch zu verlieben in dieses Chaotische, weil wir uns schließlich in das verlieben müssen, was uns noch geblieben ist, um weiterleben zu können.

Das ist eine Gefahr der heutigen Generation, aber ich weiß auch, daß der heutigen Wienerin noch vieles verblieben ist, was ich bejahen möchte. So scheint mir ihre Wesensart geschützt vor gefährlichen Übertreibungen im Bereich des Seelischen, denn sie hat gar keine Ähnlichkeit mit den grandiosen Frauengestalten der Dostojewskij-Romane, denen eine Art genialischer Hysterie eignet... und noch etwas, sie ist einer der Erscheinungen unserer Zeit, die in anderen Ländern so offensichtlich ist, ganz ferne geblieben ..., ich wenigstens habe noch nie gehört, daß die junge Wienerin mit ihren seelischen Nöten zu Psychoanalytikern geht, um sich bei ihnen Rat zu holen... ich glaube, sie weiß noch wenig von ihnen, und das ist gut. So wird sie, wie ich hoffen möchte, auch weiter davor bewahrt bleiben, allzu interessiert ihr eigenes Unbewußtes zu betrachten, sondern lieber trachten, ihrem Herzen die lebendige Einsicht zu erwerben, das heißt, Verständnis für den Mitmenschen zu haben. Das ist vielleicht eine allzu große Hoffnung und Forderung, sollte sie sich aber einmal doch erfüllen dürfen, so wird ihr Ruf, wenn auch nicht über die Sprachgrenzen hinaus, an einem Ort vernommen werden, der für uns wesentlich wichtiger ist als alle Weiten der Erde.

Alles, was ich hier versucht habe anzudeuten, enthält ganz von selbst die Bestätigung, daß die Wienerin besonders geeignet scheint, in den schönen Künsten, ob nun als schöpferische Kraft oder als Mittler, sich zu erleben ... und als Frau eben gerade in der Kunst des Tanzes. So ist es auch natürlich, daß von hier, von Wien, die Wiederbelebung der Tanzkunst ihren Ausgang genommen hat, der Tanz, der heute nicht nur mehr ein ästhetisches Ordnungsgebilde, sondern Ausdruck und Dank für die Schönheit, die Freude und auch das Leid hier auf Erden geworden ist.

Und diese Tanzkunst, sie hat einen Sdiutzgeist; auch eine Wienerin vergangener Zeit, die Fanny Elßler, die von Dichtern besungen wurde und etwas Wesentliches in ihrem Tanz mitteilen durfte, sonst wäre ihr Ruf nicht bis nach dem damals so weit entfernten Amerika gedrungen, wo vielleidit gerade sie die erste war, die den Ruf der Wienerin begründet hat. Das Bild, das wir uns von ihr machen, scheint mir auch mit dem Begriff des schönen und rechten Maßes in Einklang zu stehen, und was immer man auch unternommen hat, dieses Bild zu vergröbern, im Sensationellen zu verkitschen, es bleibt trotzdem so zart und anonym. Und wenn ich von ihrem rechten Maß spreche, so möchte ich nicht übersehen, daß ihre und unsere Zeit verschieden in den Aufgaben und Belastungen, die sie an die Menschen der früheren und der heutigen Zeit stellt, ist, so verschieden, daß ich plötzlich lieh ganz optimistisch werde, wenn ich a die heutige junge Wienerin denke, die so schwierigen Forderungen ausgesetzt ist und es zuwege bringt, mich so zu entzücken, daß ich spontan von meinen Schülerinnen als herzigen Nockerln spreche, die harte Zeit ganz vergessend ..., aber auch nicht übersehe, daß sie alle die Möglichkeit in sich bergen, einmal als Schmetterlinge aus der Puppe auszufliegen.

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