Rougemont - © Foto: privat

Ansgar Rougemont: "Wir leben in einer Welt der Vampire"

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Psychiater Ansgar Rougemont untersucht versteckte Wunden – und zeigt, wie traumatische Prägungen den ökosozialen Wandel blockieren. Ein Gespräch über die toxische Dynamik der Verdrängung.

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Psychiater Ansgar Rougemont untersucht versteckte Wunden – und zeigt, wie traumatische Prägungen den ökosozialen Wandel blockieren. Ein Gespräch über die toxische Dynamik der Verdrängung.

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Sie schlummern oft bedrohlich im Verborgenen: „Die Häufigkeit der traumatischen Belastungen in der Bevölkerung ist erschütternd“, schreibt Ansgar Rougemont-Bücking in seinem Buch „Das Zeitalter der Vampire“ (2022), in dem der neueste Stand der Trauma-Forschung gut nachzulesen ist. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen dieser „versteckten Epidemie“ sind dramatisch. Aber nicht nur das: Auch was es politisch und kulturell zu bedeuten hat, dass unsere Gesellschaften „durchtränkt sind von Trauma und Traumafolgestörungen“, wird hier radikal und kreativ durchdacht. Rougemont-Bücking ist auf die Behandlung dieser Störungen spezialisiert. Der deutsche Psychiater und Psychotherapeut forschte an verschiedenen Universitäten, darunter in Harvard, über die entsprechenden Mechanismen im Gehirn. Er ist in freier Praxis in Vevey sowie an der Universität Freiburg in der Schweiz tätig. Die FURCHE führte mit ihm ein telefonisches Interview.

DIE FURCHE: Wie kann man Trauma aus Sicht der neuesten Erkenntnisse beschreiben?

Ansgar Rougemont-Bücking: Menschen passen sich stets an ihre Lebensumstände an. Wenn diese überfordernd sind, kann der Organismus nicht anders, als dass er bestimmte Anteile abspaltet: zum Beispiel tiefen Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit oder Verlassensein. Das führt zur Schwierigkeit, die Gegenwart voll zu erleben und kann die Person nachhaltig beschädigen. Trauma wurde zunächst nach Einzelereignissen beschrieben – etwa nach einem Erdbeben oder Autounfall, einer Vergewaltigung oder einem Raubüberfall, einer Krebsdiagnose oder Naturkatastrophe. Doch in den letzten Jahren wurde die „komplexe Traumafolgestörung“ in der Psychiatrie eingeführt, da es häufig chronische Belastungen sind, die Menschen überfordern. Da geht es um traumatische Beziehungen in Familie oder Beruf. Wenn eine Person immer wieder eine überlastende Situation erlebt, muss sie sich umso mehr anpassen. Eine typische Folge ist das Stockholm-Syndrom, in dem Menschen trotz aller Widrigkeiten ein positives emotionales Verhältnis gegenüber der misshandelnden Person entwickeln. Dabei handelt es sich freilich um keine authentische Beziehung zwischen gleichberechtigten Partnern. In einer traumatischen Bindung muss man sich mit einer fortlaufenden Misshandlung arrangieren, und dies führt dazu, sich die Gegenwart schönzureden und ein rundherum positives Narrativ aufzubauen.

DIE FURCHE: Die Bewältigung eines Traumas ist oft langwierig. Welche Therapieansätze stehen heute zur Verfügung?

Rougemont: Es geht darum, etwas an sich Unerträgliches ins Bewusstsein zu bringen und ansprechbar zu machen. Dazu gibt es etwa körperzentrierte Verfahren, Hypnose, Therapien mit speziellen Augenbewegungen, holotropem Atmen oder psychedelischen Substanzen, die den Schmerz aufdecken können. Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass die herkömmlichen Wege des Denkens und Fühlens verlassen werden. Man sucht so die kontrollierte Exposition mit dem verborgenen emotionalen Anteil. Die Tür, die zum agitierten Raum der Trauma-Erinnerung führt, wird vorsichtig geöffnet. Große Sorgfalt ist angebracht, damit diese Annäherung nicht in einer „Bombenexplosion“ endet. Denn eine Überforderung kann auch im Rahmen einer Therapie stattfinden und die Patienten retraumatisieren.

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