Philipp Blom - © Foto: APA / Helmut Fohringer

Philipp Blom: „Unsere Demokratien sind am Verrotten“

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Die aktuellen Problemlagen erfordern dringend neue Denkweisen: Schriftsteller Philipp Blom über den Alltag mit „Illusionsmaschinen“, die Lust an radikaler Aufklärung und die Kraft existenzieller Hoffnung.

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Die aktuellen Problemlagen erfordern dringend neue Denkweisen: Schriftsteller Philipp Blom über den Alltag mit „Illusionsmaschinen“, die Lust an radikaler Aufklärung und die Kraft existenzieller Hoffnung.

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Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Zu den bekanntesten Büchern des preisgekrönten Bestsellerautors zählen „Der taumelnde Kontinent“ (2009), „Böse Philosophen“ (2011) und „Was auf dem Spiel steht“ (2017). Soeben ist sein neues Werk „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“ erschienen. DIE FURCHE traf Blom, der beim Philosophicum Lech am 23. ­September über eine „kleine Anatomie der realistischen Hoffnung“ referieren wird, in seiner Wiener Wohnung zu einem ausführlichen Gespräch (Das ganze Interview ist im FURCHE-Podcast nachzuhören).

DIE FURCHE: Herr Blom, in Ihrem neuen Buch analysieren Sie die Gegenwart als „Zeit der Verdunkelung“. Was hat Sie so düster gestimmt?

Philipp Blom: „Verdunkelung“ ist eine Übersetzung aus dem Englischen, der Gegensatz von „Enlightenment“, und eine wirklich schöne Wortschöpfung. Ich mache mich stark dafür, dass die Verdunkelung heute aus grell beleuchteten Wänden besteht. Klingt zunächst absurd, aber vor lauter Leuchteffekten sieht man vieles nicht mehr. Früher war Aufklärung der Kampf für Gleichheit und Rationalität, gegen Kirche und Adel. Die historische Aufklärung ist freilich kompromittiert durch den Imperialismus und die Sklaverei, die sie zum Teil unterstützt hat. Warum aber Verdunkelung? Beim Schreiben kam mir ein Bild in den Kopf. Ich denke gern mit Bildern, und genau dieses schien die Frage zu beantworten: ein Supermarkt.

DIE FURCHE: Was haben Aufklärung und Verdunkelung mit einem Supermarkt zu tun?

Blom: Das ist der einzige Ort, wo Städter(innen) noch täglich den Produkten der Natur begegnen. Gleichzeitig ist es ein Ort, der uns durch Täuschungen zu überzeugen versucht. Eine Illusionsmaschine, in der die Kühe lila und die Bauern fröhlich sind und der Kaffee von lächelnden Indios geerntet wird. Das verstellt den Blick auf die Realität der schwindenden Biodiversität, der verödeten Felder, der Tierfabriken etc. Tatsächlich ist die Welt in einem dramatischen Zustand, und wir müssen uns entscheiden, wie wir künftig leben wollen. Im Supermarkt ist das nicht möglich. Es gelingt erst, wenn wir diesen Schleier durchbrechen und die Welt so sehen, wie sie ist. Genau das ist die Aufgabe einer neuen Aufklärung.

DIE FURCHE: Spannend, dass Sie einen Ort des Alltags als Leitmotiv gewählt haben. Bei Verdunkelung hätte ich zuerst an die Strategien autoritärer Regime gedacht, an russische Propagandakanäle, Desinformationskampagnen, Wissenschaftsfeindlichkeit und gezielt verbreitete Fake News …

Blom: Das alles ist Teil dieser Verdunkelung, denn es bewirkt ja dasselbe: Es will uns überzeugen, dass die Welt völlig anders ist als in Wirklichkeit. Aber diese Verdunkelung funktioniert jetzt auch mit grellen Lichtern und schönen Geschichten, welche die dahinterliegende Welt verbergen. Zumal jede Täuschung auch eine Selbsttäuschung ist. Wir lassen uns gerne täuschen, weil wir dadurch billige Produkte erhalten. Wir machen mit bei diesem Spiel, weil es bequem ist. Deshalb ist zu fragen, was die revolutionären Slogans der Aufklärung heute bedeuten könnten.

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