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Digital In Arbeit

Werktätige Jugend

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Dem großen Jugendproblem der Gegenwart, wie e ich im großstädtischen Raum darstellt, gelten mehrere Aufsätze der jüngsterschienenen Nummern unseres Blattes. Aus einem nicht von der Großindustrie bestimmten städtischen, andersgearteten Milieu greift die nachstehende Untersuchung das Thema auf. Auch hier werden psychologische Untersuchungen und neue Aufgaben einer zeitgerechten Sozialpädagogik sichtbar, die größte Aufmerksamkeit erfordern. „Die Furche“

Die psychologische Situation: der Mittelschüler wurde auf die Mittelschule geschickt und bleibt während eine der wichtigsten und entscheidendsten Abschnitte seines Lebens Schüler. Die Berufsfrage tritt konkret eigentlich erst mit der Matura an ihn heran. Der Lehrling hingegen mußte sich bereits mit seinem vierzehnten Lebensjahr mit einer engeren Berufswahl befassen.

Die meisten Schüler der Volks- und Hauptschulabschlußklassen geben schon während des letzten Schuljahres den Beruf an, den sie näherhin zu ergreifen gedenken. Die Berufsberatung mit der psychotechni- schen Eignungsprüfung gibt ihr Urteil darüber ab, das Arbeitsamt vermittelt den Lehrplatz. Anfangs August ist der Aufding- termin. Damit steht der iunge Mensch in der Arbeit — im Leben. In einem Leben, das er bisher nur vom Hörensagen her kannte oder etwa noch insoferne, als er an seinem Vater oder älteren Bruder lebendige Beispiele dafür vor Augen hatte.

Der nun beginnende Lebensabschnitt ist gekennzeichnet zunächst dadurch, daß Leistung verlangt wird. Alle Mühe und Beschäftigung soll praktischen Erfolg und Ertrag zeitigen, grundverschieden von der Note der Schule als Erfolg der Schülerarbeit. Fand der Knabe noch vor wenigen Monaten seine körperliche und geistige Heimat im Elternhaus, in dem er einen großen Teil seiner Zeit verlebte, oder befand er sich im Kreise seiner Mitschüler, also ziemlich einheitlich Gleichaltriger und absolut Nebengeordneter, steht er jetžt herausgerissen aus allen vertrauten und bekannten Regionen in der Werkstatt, im Betrieb, großenteils unter Erwachsenen, und soll es ihnen in der aufgewiesenen Leistung möglichst bald und möglichst vollkommen, jedenfalls mit der Zeit immer mehr, gleichtun. Dabei wird sich die Aufmerksamkeit bald nicht mehr auf die Leistung allein beschränken, sondern willig und gerne auf die Lebensart der Erwachsenen ausdehnen.

Die praktische Erziehung, die den Knaben bisher im Elternhaus und Schule führte und leitete, setzt nun plötzlich fast vollständig aus. Die wenigen Stunden, die der Lehrling und Jungarbeiter zu Hause weilt, reichen für eine tiefergehende Beeinflussung schon deshalb nicht aus, weil die Freiheit während des übrigen Tages, der er sich scheinbar erfreut, dem Streben der Entwicklungsjahre nach weitgehender Unabhängigkeit entgegenkommt. Es ist die Zeit, in der die Fremderziehung einer intensiven S e 1 b s t e r z i e h u n g des reifenden Menschen Platz machen muß, wenn aus ihm ein allseitig reifer Mensch werden soll.

Mit dem Eintritt in die Lehrjahre wird zugleich das Gefühl für die materielle Unabhängigkeit vom Elternhaus gelockert, die dem Schüler noch jahrelang Vorbehalten bleibt. Der Lehrling empfängt in der Lehrlingsentschädigung seinen Lohn, der jedenfalls ein Vielfaches des allfälligen bisherigen Taschengeldes ausmacht. Meist wird ja der an sich gar nicht so geringe Betrag zum größten Teil der gemeinsamen Haushaltskasse. seiner Familie einverleibt werden. Trotzdem bleibt auf alle Fälle das Bewußtsein des eigenen Verdienens, Soweit der Lehrling Geld in der Hand behält, stehen ihm viel mehr als bisher verschiedene lockende Möglichkeiten offen: Kino, Rauchen, kleine Bedarfs- oder Luxuskäufe usw. Zugleich aber gewinnt der Lehrling mit dem der Jugend eigenen besonders scharfen Blick für Recht und Unrecht Einblick in die Mißstände des heute allgemein gültigen Wirtschaftssystems. Mag es vielleicht im einzelnen ein dunkles Gefühl bleiben, ohne die Möglichkeit klaren Ausdrucks und noch viel weniger einer Lösung, die es manchmal praktisch noch gar nicht gibt, es wächst in ihm eine Unzufriedenheit heran, die um so leichter auszunützen und auch zu mißbrauchen ist, als sie in ihrer allgemeinen, noch nicht konkretisierten Art sich gerne und willig Formung und Ziel aufdrücken läßt.

Die religiös-sittliche Situation entspricht dem Gesamtbild. War Religion in der Schule nur Unterrichtsgegenstand — leider ist es manchesmal so — und vermochte sie nicht religiöses Erleben zu vermitteln, verblaßt sie gleich iffem Gesamteindruck des Unterrichtes nach Austritt aus der Schule. Jedenfalls aber genügt und befriedigt die kindliche Form der religiösen Erkenntnis, wi sie dem Auffassungsvermögen des Schulkindes entsprach, nicht mehr. Gelingt es nicht, das erwachende selbständige Denken auch für die religiösen Belange zu lenken und zu leiten, wird die einsetzende Glaubenskrise immer negativ zu Gleichgültigkeit und kalter Ablehnung führen. Diese Entwicklung wird unterstützt durch die neue Umwelt, die in ihrem Wesen areligiös ist und in der Praxis nicht die charakterlichen und geistigen Werte an die Spitze stellt, sondern den materiellen Erfolg aus der Körperkraft und Tüchtigkeit im speziellen Arbeitsbereich.

Die äußere Situation charakterisiert sich in der werktätigen Jugend ebenso durch zeitliche wie lokale Bedingnisse.

Die Nachwirkungen der Kriegsjahre reichen auch hier spürbar herein. Normalerweise findet die Aufdingung nach Beendigung der Volks- oder Hauptschule, also zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahr statt. Das Ende der Lehrzeit fällt somit zwischen das siebzehnte und achtzehnte Lebensjahr. Kinderlandver- schickung und Einberufungen der verflossenen Zeit haben diese Termine um mehrere Jahre verschoben, so daß besonders im dritten, teilweise aber auch noch im zweiten Lehrjahr Lehrlinge mit bedeutend höherem Alter anzutreffen sind. Ebenso gibt es heute — ebenfalls als Nachkriegserscheinung — eine erhebliche Zahl Erwachsener in den Zwanziger-, ja sogar

Dreißigerfahren oncer den Lehrlingen. Be sonders ins Gewicht fällt der Altersunter schied bei den Lehrlingen des zweiten Lehrjahres: für die charakterliche und soziologische Betreuung ist es wahrhaftig nicht gleichgültig, ob ein Lehrling fünfzehn oder siebzehn Jahre alt ist.

Der Altersunterschied macht sich aber noch in einer ganz anderen Weise geltend. Lehrlinge der Altersstufe bis sechzehn Jahre unterlagen während ihrer ganzen Schulzei r den NS-Ideologien und nahmen unbewußt mehr davon auf, als sie selbst und ihre Erzieher sich eingestehen möchten. Die Abweichungen in der gesamten Denkart gegenüber jenen, die wenigstens einen Teil ihrer Volks Schuljahre vor 1938 verbrachten, ist ganz erheblich. Und das trifft nicht nur für das religiöse Gebiet zu.

Das Kriegserleben selbst, sei es nun im eigentlichen Wehrdienst bei den Älteren, oder als Flakhelfer, im Volkssturm, in den KLV-Lagern oder auch nur in den Ereignissen der Tage des Zusammenbruches, spielt keine geringe Rolle. Es genüge, auf diese Punkte hingewiesen za haben.

Die lokalen Bedingnisse sind für den Aufbau einer gedeihlichen Betreuung so wesentlich, daß die eigentliche Arbeit eine genauere Kenntnis voraussetzt.

Innsbruck zählt gegenwärtig rund hunderttausend Einwohner. Industrie ist nur in sehr bescheidenem Ausmaße vertreten. Der Hauptanteil der Lehrlinge entfällt auf die mittleren und kleinen echten Handwerksbetriebe.

Die Verteilung der 2296 Lehrlinge des Jahres 1947 auf die 1054 lehrberechtigten Betriebe von Innsbruck-Stadt ergibt die Durchschnittszahl von 2,18 Lehrlingen für einen Betrieb. Diese Verteilung ist aber keinesfalls auch nur annähernd gleichmäßig. Es haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von ausgesprochenen „Modeberufen“ herausentwickelt, die ein Überangebot und auch eine Überfüllung mit Lehrlingen aufweisen. Dazu gehören vor allem Friseure, Schneider, Kaufleute, Elektriker aller Spezialgebiete, die metall- und holzverarbeitenden Gewerbe. Die durchschnittliche Lehrlingszahl beträgt bei den Elektroinstallateuren zum Bei - spiel 3,65, Zimmerern 3,34, Kraft- fahrzeugmechani kern 3,1C Schlossern 2,39, Friseuren 2,00 Schneidern 1,92, Tischlern 1,6C usw.

Eine solche Aufstellung ergibt jedoch noch kein klares Bild, da zu viele Faktorer dabei unberücksichtigt bleiben. Eine richtigere Einsicht vermittelt folgende Rechnung:

Kaufleute in 13% der Betriebe beschäftigen 20,6% der Lehrlinge;

Schneider in 6,75% der Betriebe beschäftigen 14,5% der Lehrlinge;

Elektroberufe in 1,68% der Betriebe beschäftigen 8,01% der Lehrlinge;

metallverarbeitende Berufe in 5% der Betriebe beschäftigen 7,34% der Lehrlinge;

Friseure ln 3,26% Jer Betriebe beschäftigen 6,17% der Lehrlinge;

Tischler in 3,26% der Betriebe besdiäftigen 5,45% der Lehrlinge.

Man halte etwa dagegen:

Schuhmadter in 1,32% der Betriebe beschäftigen 1,53% der Lehrlinge;

Graphik in 0,42% der Betriebe beschäftigt 1,87% der Lehrlinge.

Auch diese Aufstellung weist Mängel durch Nichtberücksichtigung von wichtigen Faktoren auf, wie das nun einmal Schicksal von Statistiken ist. An sich jedoch müßte die Durchschnittszahl bei den Betrieben der bei den Lehrlingen entsprechen. Der Unterschied gibt das Maß der Bevorzugung an.

Die Tatsache des Existierens von ausgesprochenen „Modeberufen“ äußert sich in zweifacher Hinsicht: durch ein Überangebot ist es jenen jungen Leuten, die für diese Berufe überdurchschnittliche Eignung besitzen, trotz der Auswahl durch die Berufsberatung oft schwer, einen Lehrplatz zu finden. Für die Zukunft aber erhebt sich die Frage, wie wohl alle diese Lehrlinge nach ill rem Freispruch einen entsprechenden Arbeitsplatz werden finden können.

Die Verteilung der Lehrlinge auf die Stadt nach ihren' Wohnungen entspricht der Entwicklung eines eigentlichen Arbeiterviertels im Vorort Pradl, so daß dort weit mehr als die Hälfte aller Innsbrucker Lehrlinge wohnt. Es folgen der Reihe nach Wüten, Hötting, St. Nikolaus, während Stadtmitte und besonders der Saggen die kleinste Zahl von Lehrlingen aufweist.

Die Wohnverhältnisse sind in den neuen Straßenzügen Pradls als ausgesprochen gut zu bezeichnen. Allerdings verschlingen dort die Wohnkosten einen erheblichen Teil des Einkommens. Die schlechtesten Wohnverhältnisse herrschen in jeder Hinsicht in der Altstadt. Die dunklen, engen und winkeligen Wohnungen mit ihren mangelhaften hygienischen Einrichtungen spotten jeder Beschreibung; Barack enwohnungen sind verhältnismäßig selten und stellen hoffentlich nur eine Übergangserscheinung nach den Zerstörungen durch die Bombenangriffe dar.

Abgesehen von eigentlich seltenen F ä 11 e n ist die Wohnkultur ab durchaus hochstehend anzusehen und erreicht einen gutbürgerlichen Stand. Damit hängt unmittelbar die äußere Erscheinung des Lehrlings zusammen, die häufig der eines Mittelschülers entspricht. Daß ein Mechaniker anders von der Arbeit kommt als ein Friseur, versteht sich von selbst, besonders da noch nicht alle Betriebe ihre Einrichtungen auf die erforderliche Höhe gebracht haben. Der Lehrling selbst ist an seiner körperlichen Sauberkeit interessiert. Es kam mehr ab einmal vor, daß ein Schlosser oder ähnlicher ganz unberechtigterweise Bedenken hatte, dem Seelsorger die Hand zu reichen, weil seine Hand schmutzig war.

Genaueres Zusehen offenbart aber eine unbeschreibliche Not an Kleidung und Wäsche. Es gab in diesem Winter Lehrlinge, die auch bei strenger Kälte ohne Mantel gingen, weil sie keinen hatten. Es ist kein ELnzelfall, daß ein Lehrling das Bett hüten muß, nicht weil er sich unwohl fühlt, sondern weil seine einzige Hose bei der Mutter m Reparatur ist. Bei einem Lehrling bestanden die Schuhe nur mehr aus dem — defekten — Oberleder ohne auch nur die Andeutung einer Sohle.

Bezüglich der Freizeitgestaltung macht der Lehrling keine Ausnahme von der allgemeinen Haltung der Jugend. Er ist beinahe bis zur absoluten Ablehnung Vereins- und organisationsmüde, ein Folge das diesbezüglichen Zwanges und der Hypertrophie in der NS-Periode. Kinobesuch und Sport, wo er sich findet, stehen im Vordergrund. Auffallend ist die große Zahl Jugendlicher, die überhaupt jeden Anschluß ablehnen und am liebsten allein zu Hause bei einem Buch oder beim Basteln bleiben; ausgesprochen verschlossene, einsame Menschen. Nur zum geringeren Teil dürfte das auf die bitteren Erfahrungen der Wirkung des NS-Gesetzes auf die Familie zurückzuführen sein: wir schließen uns überhaupt nirgends mehr an, denn wer weiß, welch kommende Richtungen und Ideologien die jeweils früheren in ihren Anhängern bekämpft und verfolgt. Dabei ist das eigentliche politische Interesse durchaus gering.

Der allgemeine sittliche Stand trägt den Stempel der Zeit. Bei allem Eifer in der Arbeit und dem Interesse an einer gediegenen Ausbildung fehlt doch das eigentliche Arbeitsethos und damit zum Teil auch die Arbeitsmoral. Das Ziel heißt: möglichst bald und möglichst viel ver dienen. Bei großer persönlicher Ehrlichkeit ist doch der allgemeine Eigentumsbegriff verwirrt, eine Folge des Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsgeschehens. . Im Sexualbereich sind keine übernormalen Schwierigkeiten vorhanden.

Der Anteil der Lehrlinge an der Jugendkriminalität scheint an sich hoch zu sein. Bei mangelnder Reife und innerer Ausgeglichenheit tritt Gelegenheit und Versuchung an den Lehrling schon wie an die Erwachsenen heran, ohne daß er sich der Tragweite seiner Handlung immer klar bewußt wird.

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