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Anruf in der Nacht

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„Ich klage die Öffentlichkeit a n, daß sie keine Abhilfe schafft gegen die erschütternde Verwahrlosung unserer Jugend. Ich klage die Erwadisenen an, die sdiweigen und es zulassen, daß sich Tag für Tag ein trüber Strom von Schund- und Schmutzliteratur, von obszönen Bildern über unsere Jugend ergießt, dem niemand Einhalt gebietet. Ich klage die Erwachsenen an, die es zulassen, daß für unanständige Plakate Papier in Hülle und Fülle vorhanden ist, während für die Schuljugend keine Bücher gedruckt und keine Hefte hergestellt werden können. Ich klage die Erwachsenen an, die es zulassen, daß genügend Baustoffe vorhanden sind, um Nachtlokale wie Pilze aus der Erde schießen zu lassen, während Kinder- und Jugendheime nicht gebaut werden können. Ich klage die Öffentlichkeit an, die dies alles stillschweigend hinnimmt, Ich klage die Erwachsenen an, daß sie der Jugend kein gutes Beispiel geben. Wenn jugendliche Rechts- bredier vor den Schranken des Gerichts erscheinen, gilt das .Schuldig! den nicht anwesenden Erwachsenen. Es müßte ein setz geschaffen werden, nach dem die Erziehungsverantwortlichen für den schlechten Einfluß auf die Jugend zur Verantwortung gezogen werden können.“

Dieses furchtbare „J’accuse!“ sprach kürzlich ein Jugendrichter bei einer Arbeitstagung des Instituts für vergleichende

Erziehungswissenschaft in Salzburg. Die Tagung, die von dem Erziehungswissenschaftler Univ.-Prof. Dr. Schneider geleitet war, und eine die breite öffentlidikeit erfassende „Jugendschutzwoche“, zeigten aufs neue das erschreckende Ausmaß des sozialen und moralischen Notstandes unserer Jugend.

Wie bei jeder schweren Krankheit natürliche Abwehrstoffe in Aktion treten, so bilden sich auch im Volkskörper, der noch über gesunde Kräfte verfügt, Antitoxine, die den Kampf gegen die Krankheitskeime aufnehmen. Bei uns ist in der Jugend selbst eine Reaktion entstanden, die Hoffnung gibt, daß wir des Übels noch Herr werden können. Die Anregung zur Jugendschutzwoche kam in erster Linie aus den Reihen der Jugendverbände, die einen ehrlichen Kampf für die materiellen, geistigen und seelischen Rechte der jungen Menschen führen. Man wird die Jugend nicht allein kämpfen lassen dürfen. In diesem Ringen um die Reinigung darf die Jugend um so weniger allein gelassen werden, als die Ursachen des Übels zu allermeist in der älteren Generation liegen und von hier auf die Nachkommenden hinüberwirken. Zu allermeist liegen schlechte Familien Verhältnisse, zerbrechende und zerbrochene Ehen, einst leichtfertig geschlossen und in leichtfertiger Lebensführung vertan, schuld an dem Scheitern der Kinder. In den Referaten der Tagung wurden ersdiütternde Tatsachen festgesteilt. Wenn man aber aus Polizeiberichten erfährt, daß Mütter heute ihre Kinder auf die Straße schicken, daß Mütter ihre gesdilechtskranken Töchter aus dem Spital herausverlangen, weil sie ohne deren Gewerbe nicht leben können, daß eine Siebenjährige nachts den männlichen Gästen ihrer Mutter die Türe öffnen muß, daß die Schülerin eines Gymnasiums auf Vorhaltungen wegen ihres Lebenswandels erwidert, sie werde von ihrer Mutter dazu angehalten, daß vor einem Landesgericht durchschnittlich ein. Fall wöchentlich gegen Eltern verhandelt wird, die ifire Kinder verkuppeln, dann erkennt man, daß das „Schuldig!" Eltern gilt, die alle sittlichen Grundbegriffe zerrissen und ihre eigenen Kinder zu Opfern der Elternsünden gemacht haben. Freilich, es muß nicht immer diese krassen Ursachen haben, die aus dem Elternhaus heraus zur sittlichen Verwahrlosung führten, schon Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit der Eltern, auch wirtschaftliche Nöte und katastrophale Raumnot überantworten die Jugendlichen oft dem sittlichen Ruin.

Die Jugendverbände wenden sich in öffentlich zugänglichen Versammlungen für Erwachsene an die Eltern und fordern für ihre gefährdeten Altersgenossen verantwortungsbewußte Erziehung im Elternhaus, und wo dies infolge sozialer Verhältnisse nicht möglich ist, die Abgabe der Kinder an Jugendheime oder wenigstens die Unterbringung in Tagesheimstätten. Das bedeutet aber auch die Errichtung von mehr Jugendheimen für junge1 Menschen, denen das Elternhaus nicht genügend moralischen Schutz bietet, und mindestens großzügigere Förderung von bestehenden Erziehungsheimen, in denen haltlose, willensschwache Jugendliche, die bereits mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind, durch verständnisvolle Anleitung wieder zur sozialen Gemeinschaft zurückgeführt werden können.

Erste Bedingung einer zweckmäßigen Verwahrlosungsbekämpfung ist eine gründliche pädagogische Reorganisation der noch bestehenden Jugendgefängnisse. Die Delegierte des Uniterian Service Committee in Österreich, die Schweizerin Else K e n d e - H a u s, gab auf der Arbeitstagung des Erziehungswissenschaftlichen Instituts den Eindrude wieder, den das Wiener Jugendgefängnis auf sie ausübte: „Es scheint mir unfaßlich, daß in unserer Zeit der fortschrittlich pädagogisch- psychologischen Erkenntnisse das Jugend- gefängnis als Institution noch existiert. Ein Gang durch dieses Haus mit seinen Zellen, seinen dunklen, düsteren Arbeitsräumen, mit der typischen geisttötenden Gefängnisbeschäftigung, mit seinem trosdosen Gefängnishof, dieser eine Gang zeigt schon klar, daß in einer solchen Uipgebung keinerlei positive erzieherische Einwirkung möglich ist. Ein Aufenthalt in diesem Gefängnis ist im Gegenteil dazu angetan, alle negativen, asozialen Regungen im Jugendlichen zu fördern. Wenn eine klare pädagogische Konzeption, verbunden mit einem unbeugsamen Willen in einer starken Erzieherpersönlichkeit vereint sind, dann läßt sich auch unter baulich und wirtschaftlich ungünstigen Verhältnissen, wie sie heute in Österreich sind, ein Weg finden, um positive Erziehungsarbeit zu leisten. Zweifellos hat hier auch die Gesetzgebung einzugreifen. Ein zeitgerechtes Jugendschutzgesetz ist zur unumgänglichen Notwendigkeit geworden. Audi einem verantwortungsbewußten Verlagswesen fallen hier Aufgaben zu. Es nützt wenig, Schlechtes verdrängen zu wollen, wenn man nicht Gutes, gesunden Bedürfnissen der Jugend Entsprechendes an die Stelle setzt. Mit Fug wird auch die Forderung erhoben, daß der Besuch guter Theaterdarbietungen durch verbilligte Eintrittspreise für Jugendliche gefördert und Wanderkinos geschaffen werden und durdi kulturell sowie künstlerisch wertvolle Filme auf die Geschmackserziehung der Jugend zu wirken.

Es ist nicht wahr, daß man wehrlos ist gegen die Übel, die heute schon zu einer schweren Bedrohung der physischen wie der sittlichen Gesundheit unseres Volkes geworden sind. Aber es ist höchste Zeit, daß man von dem Entsetztsein, Klagen und vielen Reden endlich zum Handeln übergehe. Unserer Volksvertretung ist zuzurufen: Custos, quid de n o 11 e ? „W achter, weißt du, wie soät es schon ist in der Nacht?“

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