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Die Struktur der Familie änderte sich mit ihrer Funktion

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Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß unser Bild von der Entwicklung der Familie als sozialer Gruppe in entscheidender Weise nicht von der Geschichtswissenschaft, sondern von der Familiensoziologie geprägt ist. Grundlegende Annahmen über historische Familienformen und deren Wandel wurden von Soziologen erstellt. Erst seit relativ kurzer Zeit hat sich auch die Sozialgeschichte diesem Gegenstand zugewandt - zunächst in den USA, in England und Frankreich, neuerdings auch in Deutschland und Österreich. Am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien läuft seit vier Jahren ein Forschungsprojekt „Strukturwandel der Familie in Österreich seit dem 18. Jahrhundert“ das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert wird. 1977 kam ein von der Stiftung Volkswagenwerk unterstütztes zweites Forschungsprojekt „Strukturwandel der Familie im europäischen Vergleich“ hinzu. Beide sollen ab 1979 gemeinsam mit einigen anderen Vorhaben in einem interdisziplinär konzipierten Forschungsschwerpunkt „Familie im sozialen Wandel“ im Rahmen des Schwerpunktprogramms der österreichischen Rektorenkonferenz fortgeführt werden.

Die bisherigen Untersuchungen über den Strukturwandel der Familie in Österreich stützten sich vor allem auf die Auswertung einer interessanten Quellengattung, die trotz massenhafter Uberlieferung von der sozialhi-

storischen Forschung völlig unbeachtet blieb: Im Zuge der Gegenreformation wurden die Pfarrer angehalten, zur Überwachung des Sakramentenempfangs Persönenstandslisten über ihre Pfarrangehörigen zu führen. Diese „Seelenbeschreibungen“, „Seelenbücher“ oder „Seelenregister“ enthalten nach Häusern geordnet mehr oder minder detaillierte Angaben über die einzelnen Familienmitglieder und stellen so eine vorzügliche Massenquelle über historische Familienstrukturen dar. Mitunter wurden für eine Pfarre Jahrzehnte hindurch jährlich solche Verzeichnisse angelegt, so daß sich alle Veränderungen im Familienstand im einzelnen rekonstruieren lassen. Diese kirchlichen Personenstandslisten bildeten die Grundlage für das staatliche Volkszählungswesen, dessen Urmate-rial für die neuere Zeit ähnliche Auswertungsmöglichkeiten bietet. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden in mühevoller Kleinarbeit hunderte solcher Listen ausfindig gemacht und untersucht.

Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen betreffen einige sehr grundsätzliche Probleme. So war etwa schon als eine Voraussetzungsfrage eingehenderer Analysen zu klären, welche der in den Quellen angeführten Personen denn überhaupt zur Familie als sozialer Gruppe zu zählen sind.

Diese Abgrenzungsfrage führte zur Auseinandersetzung mit soziologischen Familiendefinitionen. Es zeigte sich deutlich, daß mit einem bloß an Verwandtschaftskriterien orientierten Familienbegriff bei der Untersuchung historischer Familienformen nichts anzufangen ist. Die Familienrealität vergangener Zeiten war sehr maßgeblich durch das Zusammenleben mit nichtverwandten Personen geprägt. Eine wesentliche Rolle spielten dabei Knechte, Mägde, Gesellen, Lehrlinge

sowie andere Formen des häuslichen oder betrieblichen Dienstpersonals.

In der Zusammensetzung der Familien zeigen die historischen Persönenstandslisten eine bunte Vielfalt von Konstellationen. Von einem einheitlichen Familientypus älterer Zeiten, der sich kontrastierend heutigen Familienformen gegenüberstellen ließe, kann überhaupt keine Rede sein. Ais-unzutreffend erwies sich vor allem die Annahme vom Vorherrschen der „Großfamilie“, wie sie sowohl nach so-

zialwissenschaftlichen Darstellungen als auch nach weit verbreiteten Vulgärvorstellungen für die vorindustrielle Zeit typisch gewesen sein soll. Das Zusammenleben von Angehörigen dreier Generationen war damals keineswegs der Regelfall, genausowenig die Haushaltsgemeinschaft umfassender Verwandtschaftsverbände. Auch das Bild von der kinderreichen „Großfamilie“ bedarf einer Revision.

Unhaltbar erscheinen nach dem Befund der Quellen alle linearen Evolutionsmodelle. Die tatsächliche historische Entwicklung war höchst kompliziert. Allgemeine Trendbestimmungen wie „von der erweiterten Familie zur Kernfamilie“ oder „von der Großfamilie zur Kleinfamilie“ werden ihr keineswegs gerecht. Auch hinsichtlich der Faktoren, die einen Wandel der Familienstrukturen bewirkt haben, muß viel stärker differenziert werden, als dies in der Regel geschieht. Den Prozeß der Industrialisierung als generelle Ursache der Veränderung anzusehen, wäre eine unzulässige Vereinfachung. Eine sehr bedeutsame Rollie spielte nach den bisher durchgeführten' Untersuchungen der Prozeß der Urbanisierung, von dem aus sich freilich genausowenig ein umfassendes Erklärungsmuster ableiten läßt.

Sehr deutlich zeigen die historischen Analysen, daß Strukturwandel der Familie stets mit deren Funktionswandel in Zusammenhang zu sehen ist. Als zentrale Funktion erweist sich dabei für ältere Zeiten die Produktionsfunktion. Die jeweilige personelle Zusammensetzung der Familie ist bei familienwirtschaftlicher Produktionsweise am stärksten von den spezifischen Bedürfnissen der Arbeitsorganisation geprägt.

Interessante Einblickein historische Formen des Familienlebens ergeben sich, wenn man für einzelne Familiengemeinschaften die Veränderungen der Zusammensetzung in der zeitli-chen Folge- also den Ablauf des Familienzyklus - rekonstruiert. Dabei zeigt sich, daß ein Zusammenleben in gleichbleibender Konstellation in der Regel über viel kürzere Zeiträume gegeben war, als das heute der Fall ist. Dieses Phänomen der stärkeren Fluktuation eröffnet Perspektiven für eine sozialpsychologische Interpretation

der Personalbeziehungen innerhalb der Familie. Weiters ergeben sich von der Rekonstruktion historischer Familienzyklen grundsätzliche Möglichkeiten für die Erforschung spezifischer Lebensbedingungen in bestimmten Altersphasen: die familiale Umwelt des Kindes, des Jugendlichen, des alten Menschen.

Diese Forschungsthemen führen in Bereiche, denen von der Geschichtswissenschaft bisher wenig Aufmerksamkeit zugewandt wurde. Die historische Entwicklung von Primärgruppen erscheint für das Geschichtsbild der Gegenwart von besonderer Bedeutung, als hier die unmittelbar erfahrene Lebenswelt des Menschen angesprochen ist. Untersuchungen zur Geschichte der Familie können dazu beitragen, Erscheinungen und Gegebenheiten dieses engeren Lebensbereichs aus ihrer Genese besser zu verstehen.

Uber seine Bedeutung im Bereich der historischen Forschung hinaus könnte die Beschäftigung mit der Sozialgeschichte der Familie einen Beitrag zu einer verbesserten Zusammenarbeit von Geschichte und Sozialwissenschaften leisten. Die Vielfalt von Querbeziehungen zu verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen läßt die Familie als einen nahezu idealen Gegenstand fachübergreifender Forschung erscheinen. Für die sozialwissenschaftliche Theorienbildung hätte die stärkere Einbeziehung der historischen Entwicklung sicher eine wichtige relativierende Funktion.

Nicht zu unterschätzen ist der Beitrag, den die Sozialgeschichte der Familie für das gesellschaftliche Bewußtsein leisten könnte. Weit verbreitet finden sich Vorstellungen und Werthaltungen, die von der Annahme ausgehen, die Familie wäre eine naturhafte Konstante des sozialen Lebens, deren Veränderung gegen die „natürliche Ordnung“ der Gesellschaft verstößt. Demgegenüber muß der Historiker betonen, daß die Familie als soziale Gruppe im Ablauf der geschichtlichen Entwicklung vielfache strukturelle und funktionale Wandlungsprozesse durchgemacht hat, also keineswegs jenes überzeitlich gleichbleibende Gebilde darstellt, als das sie aus bestimmten Gegenwartsinteressen vielfach gesehen wird. Kenntnis der historischen Entwicklung bedingt notwendig eine Haltung der Offenheit. Wer um die Veränderungen der Familie in der Vergangenheit weiß, wird auch bereit sein, über Veränderungen in der Gegenwart zu diskutieren.

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