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Das Zeitalter des Imperialismus in soziologischer Schau

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Das obgenannte Werk des deutsch-amerikanischen Professors Hallgarten bildet ohne Zweifel eine ganz hervorragende Bereicherung des Geschichtsbildes der von ihm behandelten Zeit. Der Verfasser ist natürlich nicht der erste, der die Einwirkung soziologischer Ursachen auf die historisch-politischen Entwicklungen festgestellt hat, wohl aber ist er als erster für einen ganzen Geschichtsabschnitt den soziologischen Untergründen und ihren Auswirkungen systematisch nachgegangen, und kaum einer hat sie wie er so folgerichtig mit den politischen Erscheinungen verknüpft. Er ist daher wohl ira Recht, wenn er der Geschichtsschreibung über die neuere Zeit immer wieder vorwirft, den soziologischen Zusammenhängen viel zu geringe Aufmerksamkeit zu schenken. Die vom Autor propagierte und geübte „soziologische Betrachtungsweise darf keineswegs mit einer „materialistischen“ oder „ökonomischen“ oder „kollektivistischen“ gleichgesetzt werden, obwohl in der Durchführung die wirtschaftlichen Momente weitaus am stärksten ‘hervortreten. Die leitende Idee des Verfassers ist, nachzuweisen, daß die politische Entwicklung weit weniger durch Willen und Planung der leitenden Persönlichkeiten — die zu schieben glauben, während sie selbst geschoben werden — bestimmt wird als durch die unbeabsichtigten Aus Wirkungen und beabsichtigten E i n Wirkungen sozialer Schichtungen und Umschichtungsprozesse, die — zwar nicht immer, aber doch vorwiegend — in der Form ökonomischer Interessengruppen zutage treten. Hallgarten bestreitet wohl nicht prinzipiell die geschichtliche Bedeutung der hervorragenden Persönlichkeit, aber eie erscheint denn doch in seiner Formulierung, „daß die Rolle des schöpferischen Genies ja stets darin besteht, daß es instinktiv die gegebenen sozialen Verhältnisse erkennt und begreift, wie sie zu ändern sind“ (Bd. I, S. 85), stark eingeschränkt. Auch diie von ihm nacht grundsätzlich abgelehnte Rolle der ideellen und irrationalen Elemente wird durch die Ausführungen des Autors über das Verhältnis von „soziologischen Unterbau“ zum „ideellen überbau“ (Bd. I, Methodologische Vorbemerkung) stark zugunsten des ersteren und zum Nachtteil des letzteren verschoben. Nicht jedermann wird dem Verfasser in seinen prinzipiellen Formulierungen restlos beistimmen können, aber niemand kann bestreiten, daß sich durch die Anwendung seiner Betrachtungsweise die ganze Vorkriegsgeschichte in einer neuen, überaus plastischen und geschlossenen Form zeigt.

Die der eigentlichen thematischen Behandlung vorausgeschickte theoretische Einleitung wird vielleicht manchem mehr auf die Praxis ausgerichteter Leser als etwas zu lang und akademisch gehalten erscheinen. Hingegen sind die Studien über die soziologischen Grundlagen der englischen und der französischen Politik, die vom Zeitalter des Merkantilismus zum Kolonialsystem und Imperialismus hinüberleiten, als ganz vorzüglich gelungen zu bezeichnen. Der Hauptteil des Werkes ist zwar, rein volumenmäßig betrachtet, zum weitaus größten Teil von der soziologischen und politischen Entwicklung in Deutschland ausgefüllt — was den Anschein einer Diskrepanz zwischen dem allgemeiner gehaltenen Titel und dem Inhalt erwecken und die leider zahlreichen „terribles simplificateurs“ zu falschen Folgerungen verleiten könnte. Tatsächlich werden jedoch die in Deutschland in Erscheinung tretenden soziologischen Elemente stets in ihren Wechselbeziehungen zu den analogen Erscheinungen in den anderen Großstaaten behandelt, und der Unterschied besteht nur darin, daß die deutsche Entwicklung viel mehr ins Detail gehend und beinahe von Tag zu Tag geschildert wird, während die Verhältnisse in anderen Staaten in breiterem Pinselstrdch — aber darum keineswegs weniger prägnant — gezeichnet sind. Als Ergebnis bietet sich ein überaus anschauliches Bild der Zusammenhänge zwischen den jeweils in den einzelnen Staaten in den Vordergrung tretenden sozialen Schichtungen und Interessengruppen und den machtpolitischen Beziehungen der Staaten untereinander.

In den Mittelpunkt der Betrachtungen über die deutsche Politik stellt Hallgarten vollkommen richtig die Kritik an dem, was er als die Politik des „Sowohl-als-auch“ bezeichnet. Daß Deutschland infolge seiner geographischen Mittenilage unbedingt darauf angewiesen ist, für seine jeweilige Politik die Rückendeckung durch wenigstens eine der beiden großen europäischen Flügelmächte — England und Rußland — zu suchen, war der Grundgedanke der Bismarckschen Reichspolitik, den er mit der allergrößten Sorgfalt durchgeführt hat. Daß in der nachbismarckschen Zeit dieser Grundsatz aufgegeben und eine Politik — oder vielmehr eine Mehrheit von politischen Richtungen — eingeschlagen wurde, die Deutschland in Gegensatz zu beiden Mächten geführt hat, ist wohl schon von vielen Autoren vor Hallgarten als das Verhängnis Deutschlands erkannt worden: dabei haben die einen den Grundfehler in der Aufgabe der russischen Rückendeckung, die andern im Gegenteil im Nichtzustandekommen eines guten Verhältnisses zum britischen Weltreich erblickt. Verdienst des Verfassers ist es jedoch, nachgewiesen zu haben, wie diese Politik des „Sowohl-als-auch“ unter der abwechselnd in Erscheinung tretenden Einwirkung agrarischer, schutzöllnerischer, finanzieller, export- und rüstungsindustrieller Interessengruppen — zu denen sich noch der Druck der Kolonial- und Flottenenthusiasten gesellte —, schrittweise zustande gekommen ist, wobei bald die Pression einer Seite das Verhältnis zu England, bald die von einer anderen die Beziehungen zu Rußland stets neuen Belastungen aussetzte. Man erkennt, wie alle Versuche, entweder mit der einen oder mit der anderen Seite zu einer dauernden Verständigung zu gelangen, unter dem Einfluß bald dieser, bald jener Interessengruppe zum Scheitern kamen, bis schließlich diie von den Interessen des Finanzkapitals und der Rüstungsindustrie inspirierte deutsche Orientpolitik die Politik des „Sowohl-als- auch“ durch die Einklemmung Deutschlands zwischen die englische und russische Interessensphäre vollendete lind den traditionellen britisch-russischen Antagonismus in eine gegen Deutschland gerichtete gemeinsame Gegnerschaft verwandelte.

Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß der Verfasser durchaus unparteiisch auch das Wirken der soziologischen Kräftegruppen in den anderen Ländern zeichnet und daß er die zur schließlichen katastrophalen Explosion hintreibenden Einflüsse auf die Staatsführung in England, Frankreich und Rußland genau so schonungslos bloßlegt wie die auf deutscher Seite wirksamen. Ja, es ergibt sich aus seiner Darstellung, daß die Verflechtung der maßgebenden Persönlichkeiten der Staatsleitung mit den Interessengruppen genau so deutlich und in eher noch bedenklicheren Formen nachweisbar ist als in Deutschland.

Man kann die Neugestaltung des historischen Bildes, die sich aus der Betrachtungsweise Hallgartens ergibt, zu der durch die tiefenpsychologischen Erkenntnisse und Methoden Freuds auf einem andern Gebiet hervorgerufenen Umwälzung in Parallele setzen. Diese erstreckt sich auch darauf, daß die Bloßlegung des soziologischen Unterhaus ebenso wie der tiefenpsychologischen Zusammenhänge durch bewußten oder unbewußten Widerstand aller Beteiligten erschwert wird. Die Analogie läßt sich aber auch noch weiter verfolgen: ebenso wie eine radikale Richtung unter den Nachfolgern Freuds den bisher unbekannten tiefenpsychologischen Elementen eine geradezu dominierende Rolle im psychischen Geschehen zuweist, so ist auch bei Hallgarten eine Neigung zur Uber- und A 11 e i n betonung des soziologischen Unterhaus nidit zu verkennen. Des „Lebens dunkler Knäuel“ ist nicht ausschließlich aus soziologischen Fäden geflochten, und Weltanschauungen, Ideen und Persönlichkeiten wirken im Weltgeschehen aus eigener Kraft und nicht bloß infolge ihrer Bedingtheit durch oder aus ihrer Verbindung mit soziologischen Gegebenheiten. Und am allerwenigsten kann von dem „Unerforschlich-Unergründlichen“ abgesehen werden, das dem Menschen — je nach seiner geistigen Einstellung — als „Vorsehung“, „Moria“, „Kismet“ oder „blinder Zufall“ erscheint. Die Konzentration auf die soziologischen Zusammenhänge führt daher den Autor zuweilen zu überspitzten Konstruktionen, bei denen weder den Prämissen noch den Schlußfolgerungen vollinhaltlich zugestimmt werden kann. Die betonte Enthaltsamkeit des Verfassers von allen nidit strikte in die soziologische Schau fallenden Themen ist übrigens auch deshalb zu bedauern, weil dem Autor, dort, wo er sich darauf einläßt, die Charakterisierung von Persönlichkeiten (Eduard VII., Poincarė, Delcassė, Tardieu u. a.) — oft mit wenigen Strichen — besonders gut gelingt.

Hiemit könnte die Besprechung schließen, wenn sidi nicht für den österreichisdien Leser die Notwendigkeit ergäbe, gegen die allgemeine Einstellung des Verfassers zu den Problemen der ehemaligen Donaumonarchie ernsthaften Widerspruch zu erheben. In auffallendem Gegensatz zu seiner sonstigen wis- sensdiaftlich abgeklärten Haltung. klingt bei der Besprechung österreichischer Verhältnisse an vielen Stellen eine ausgesprochene Animosität durch, die sich stellenweise bis zur unwissenschaftlichen Invektive steigert („vertrotteltes Personal der Klassendiplomatie des Ballhausplatzes“, Bd. II, S. 255). Bei einm Forscher von der Klasse des Autors hätte man füglich mehr Verständnis für : die ganz ungewöhnlich komplizierten und schwierigen Probleme des Donaureiches erwarten dürfen, insbesondere als auch das seine Existenz bedrohende Nationalitätenproblem im Grunde eine soziologische Erscheinung erster Ordnung ist. War doch das alte Österreich-Ungarn unter den Großmächten die einzige, bei der es um Sein oder Nichtsein ging, während die politischen Gefahren und Bedrohungen, mit denen die anderen Mächte zu rechnen hätten, nur der Hemmung ihres Expansionsdrangs, der Behinderung ihrer Wirt- schaftsentfaltung, äußerstenfalls dem Besitz dieser oder jener Grenzprovinz oder Kolonie galten. Daß gerade dem Staat, dessen bald bevorstehende Zerstrümmerung bei den meisten seiner Nachbarn offen erörtert, propagiert und betrieben wurde, immer wieder „Kriegstreįberei“ vorgeworfen wird, kann weder als wissenschaftlich begründet, noch als gerecht anerkannt werden. Vielleicht liegt die Erklärung für die Einstellung des Verfassers darin, daß ihm die österreichischen Verhältnisse — wie aus an sich belanglosen, aber recht zahlreichen Detailirrtümern hervorzugehen scheint — weniger vertraut sind, als die der anderen Länder und daß er sich deshalb stärker auf Literaturerzeugnisse stützt, von denen ihn jedoch leider gerade die für Österreich-Ungarn unfreundlichen am meisten beeinflußt zu haben scheinen (Wendel, Sėton- Watson, Bernadotte, Schmitt, Ninčič u. a. m.). Dem Schreiber dieser Zeilen liegt es durchaus fern, die unbestreitbaren, von der österreichisch-ungarischen Politik begangenen Fehler und Irrtümer decken und beschönigen zu wollen, er möchte aber doch der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Verfasser, vor dem Erscheinen . weiterer Auflagen seines Werkes, sich der Aufgabe unterziehen möge, die auf die Donaumonarchie bezüglichen Abschnitte daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht die Politik des alten Donaureiches mit unverdienter Strenge behandeln. Er ist jederzeit gerne bereit, dem Verfasser gegenüber das eben Gesagte ausführlicher zu begründen, was im Rahmen dieser Besprechung leider nicht möglich ist.

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