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Die Großfamilie — gab's die?

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Was einst von frommen Pfarrherren Jahrhunderte hindurch in dicken Büchern festgehalten worden war, dient heute den Historikern als Quelle.

Die Forscher des Wiener Universitätsinstituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte unter Leitung von Univ.-Prof. Michael Mitterauer, die im Rahmen eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung geförderten Projekts die „Seelenbücher” aus vier Jahrhunderten auswerteten, kamen dabei auf überraschende Ergebnisse.

Nicht nur, daß sie die nostalgische Vorstellung von der idealen Großfamilie der „guten alten Zeit” als Phantom entlarven konnten. Sie stellten auch fest, daß es in Ost- und Südosteuropa eine ganz andere Familienstruktur und -entwicklung gegeben hat, als in Nord- und Westeuropa — und daß diese verschiedenen Strukturen ihre Auswirkungen auf die gesamte soziologische Entwicklung hatten.

Jahrhunderte hindurch waren die Pfarrer die einzigen, die über ihre Schäflein Buch führten und damit statistisches Material sammelten. Im ganzen katholischen Europa wurden seit dem 16. Jahrhundert „Seelenbücher” geführt, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts langsam von staatlichen Volkszählungen abgelöst wurden.

In diesen Seelenbüchern waren alle Einwohner einer Pfarre verzeichnet, geordnet nach Haushalten. Jede einzelne Person war—im günstigsten Fall - mit ihrer Stellung im Haushalt, mit Alter, Familienstand, Beruf und Geburtsort angeführt.

250.000 Einzelpersonen aus vier Jahrhunderten und aus ganz Europa wurden von den Wiener Forschern aufgenommen und ihre Daten im Computer gespeichert.

Unter der Lupe kamen dann ganz sonderbare Gebilde hervor, die mit unserer modernen Familie wenig Ähnlichkeit besitzen. Da gab es Haushaltsgemeinschaften als Arbeitsorganisation, in denen neben der Eltern-Kinder-Gruppe Knechte und Mägde, Gesellen und Lehrlinge, Schreiber und Sekretäre, oder aber, Dienstmädchen, Hausmeister und Kutscher in enger Gemeinschaft lebten.

Auf der andern Seite gab es Großfamilien mit fünf oder sechs Ehepaaren mit stark differierenden Altersverhältnissen. Was also war „die” vorindustrielle Familie?

Bei näherer Untersuchung stellte sich dann heraus, daß quer durch Europa, von Norden nach

Süden, etwa auf der Linie Leningrad — Triest die Grenze zwischen zwei völlig verschiedenen Familienstrukturen verlaufen ist.

Ostlich dieser Linie heiratete man in historischen Zeiten relativ früh. Vor allem die Mädchen erhielten schon bald nach der Geschlechtsreife ihren Gatten zugeteilt.

Hier wurde in der Familienwirtschaft der Arbeitskräftebedarf vorwiegend von Verwandten gedeckt. Die Familien bestanden aus mehreren verwandten Ehepaaren und unverheirateten Verwandten des Mannes. Bis zu vier Generationen lebten im gemeinsamen Verband, über den der älteste Mann als Patriarch herrschte. Der Besitz wurde nur durch Männer weitergegeben.

Westlich dieser Grenze dagegen heirateten die Frauen erst zwischen 23 und 25 Jahren, die Männer noch später. Die lange Spanne zwischen der Erreichung der Geschlechtsreife und der Möglichkeit der Familiengründung begünstigte die Mobilität der Jugend. Die jungen Menschen zogen als Knechte oder Mägde, als Handwerkburschen oder Scholaren in die Ferne und blieben vielfach dort hängen.

In der Familie selbst wurde daher der Arbeitskräftebedarf durch nichtverwandte Personen gedeckt. Wo mehrere Generationen in einem Haushalt zusammenlebten, übergab der Altbauer den Hof, der Meister den Betrieb an den Sohn und ging ins Ausgedinge.

Die Historiker führen die Entstehung dieser europäischen Familienverfassung, die sich grundsätzlich von überseeischen unterscheidet, auf die besondere Organisation der Grundherrschaft im Fränkischen Reich zurück.

Die hohe Mobilität der Jugendphase, die Hausstandsgründung in der Ferne, die geringe Bedeutung der Altersautorität haben nach Meinung der Forscher dazu beigetragen, daß die alteuropäische Gesellschaft für Veränderungen leichter zugänglich war, als jene im Osten des Kontinents — ein Phänomen, das sich bis in die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, philosophischen Bereiche hinein verfolgen läßt.

Mit dem Wandel der gesamten Sozialstruktur in West- und Mitteleuropa, vor allem mit dem Vordringen der Lohnarbeit, der Urbanisierung, der Bürokratisie-rung und schließlich der Industrialisierung ging die Familienwirtschaft unter. Die Ubergangsphase des ausgehenden 19. Jahrhunderts brachte die schwierigsten sozialen Probleme, als die Familie noch nicht genügend durch Lohnarbeit in ihrer Existenz abgesichert war.

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