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In der elften Generation schon 1024 Ahnen

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Da sind wir bereits mitten in dem fesselnd-, sten Thema: Genealogie und Gesellschaft! Die Familie als Zelle des Gemeinwesens wird in ihrem auf Abstammung gründenden Unterbau sichtbar. Soziologisch bedeutsam ist auch die zweite Nonn, die den Satz von dem mit der Nähe wachsenden, mit der Entfernung abnehmenden Belang der Erbwirksamkeit eines Ahnen abändert, die vom „starken“ Vorfahren. Hier handelt es sich um eine besonders verwickelte frage, die mit der bloßen' kalten Ver-rrnr#t.!*ein*he nicht zu löse*-ist. Wir medhfen' dennoch einen Versuch dazu wagen. Beschäftigen wir uns mit den Ahnentafeln einer Gruppe von Menschen, die durch örtliche Nachbarschaft oder durch gemeinsame, meist standesbedingte Absonderung miteinander verknüpft sind, dann fallen uns stets in den höheren Generationen eine Anzahl Personen auf, die häufiger wiederkehren als -andere ihrer Zeitgenossen; diese „starken“ Ahnen sind es, durch die, je nachdem nach drei, vier, fünf Jahrhunderten, bei kleineren Gruppen aber weit früher, alle Angehörigen der Gruppe miteinander verwandt erscheinen. Die starken Ahnen sind es sodann, die aufs häufigste als Vorfahren eben dieser Gruppenmitglieder auftreten und die somit die besten Chancen haben, ihre Eigentümlichkeiten zu vererben.

Wir alle wissen durch die verschiedenen Statistiken, daß die gesamte Welt heute von über zweieinhalb Milliarden Sterblichen bewohnt wird, daß sie im 7. christlichen Jahrhundert kaum hundert Millionen Erdenbürger bevölkerten und daß diese Zahl zwölf Jahrhunderte zuvor zweifellos noch bescheidener war. Wie also den Widerspruch erklären; zumal nicht alle Menschen zeugungsfähig waren, sei es, daß sie vor der Pubertät starben, sei es, daß sie unfruchtbar blieben?

Das Paradox löst sich durch eine Antwort, von der man staunt, daß sie den Gelehrten erst im 19. Jahrhundert klar bewußt wurde: jeder Mensch ist mit jedem Mensehen verwandt, da er mit ihm irgendwie von denselben Vorfahren stammt. Diese Verwandtschaft ist um so näher, je kleiner und geschlossener die Gruppe ist, der ein Individuum blutmäßig angehört. Ein und derselbe Ahne kommt mehrmals, und je weiter wir in der Vorfahrenschaft zurückblenden, um so öfter in der Aszendenz einer Person vor. Empirische Beobachtung, vor allem an den Ahnentafeln von Fürstlichkeiten oder von Leuten, die aus Gegenden mit gut erhaltenen Bevölkerungsregistern stammen, unterrichtet uns über die zunächst verblüffende Höhe des Ahnenverlusts. So hat zum Beispiel der Graf von Paris, Chef des Hauses Frankreich und derzeitiger Prätendent auf den Thron der Bourbonen, in der fünften Generation (Ur-

Urgroßeltern) statt theoretisch 16 nur 8 voneinander verschiedene Vorfahren, in der elften statt 1024 nicht mehr als 181 und in der vierzehnten statt 8192 ein Fünfzehntel dieser Zahl, nämlich 546. Die Aszendenz dieses Fürsten ist ungewöhnlich exklusiv. Bis weit zurück begegnen uns in ihr nur Mitglieder von Dynastien, allmählich, zögernd, „gewöhnliche“ Adelige und unter den 4096 Ahnen die ersten Bürgerlichen. Auf die Lehren, die aus dieser und aus ähnlichen Vorfahrentafeln zu holen sind, werden wir noch zurückgreifen. Vorher wenden wir uns indessen den mehrerwähnten „starken“ Ahnen zu. Sie zeichnen ich durch oftmalige Anwesenheit in den höheren Generationen der Aszendenz aus; davon rührt vordringlich der Ahnenverlust her. Wir können dartun. daß die Tendenz vorhanden ist, Blut dieser starken Vorfahren wieder deren Blut zu gesellen. Und das hat nicht etwa, wie man mit leichtfertiger Oberflächlichkeit, absprechend oder lobend, deklamieren könnte, mit der Vornehmheit oder mit der rassischen Höherwertigkeit etwas zu tun, sondern nur mit der biologischen Bedeutung des Ahnen bzw. des Ahnenpaares.

Darum entdecken wir starke Ahnen, die ungezählte — oder gestehen wir es, wohlgezählte häufige — Male in Aszendenztafeln auftreten, nicht nur unter genialen Herrschern, wie Karl dem Großen und den andern großen Kaisern des Mittelalters, wie dem heiligen Ludwig von Frankreich oder, uns zeitlich näher, Wilhelm von Oranien. Nein, in diese Kategorie fallen auch, wenn nicht vor allem, Fürsten, die man im wahrhaft zweideutigen Sinne „Väter des Vaterlands“ hieß, so der immerhin auch sonst hervorragende Heinrich IV. von Frankreich oder die burgundischen Herzoge bis zu Karl dem Kühnen und Kaiser Maximilian I. Wir treffen gar durchschnittliche Gestalten, die sonst kein Anrecht auf geschichtliche Glorie hätten, wie den Pfalzgrafen Wolfgang von Zweibrücken, Graf Kraft von Hohenlohe, Graf Friedrich von Wied, Freiherr Johann Georg von Schönburg, die offenbar außerordentliche biologische Schätze in sich geborgen haben. Es gibt ferner zu denken, daß sich ein schlichtes Württemberger Beamtenpaar in den Ahnentafeln der führenden Dichter und Wissenschaftler Deutschlands wiederfindet.

Aus derlei genealogischen Prämissen erklärt sich die Fixation eines leiblichen und seelischen Typus, der dem Mannesstamm der genannten beiden Herrschergeschlechter einen unauslöschlichen Stempel eingedrückt hat. Doch wir brauchen da nicht bis in die obersten Schichten “ der europäischen Fürstenhäuser vorzustoßen. Ganz ähnliches wiederholt sich bei den Rothschild. Und der eigenwillige Pilsudski war genealogisch durch eine Ahnentafel bestimmt, in deren ihm nächsten Generationen zwei litauische Familien, nicht aber sein Vaterstamm, überwogen: die Billewicz und die Butler.

Es ist von besonderem Interesse, darüber Klarheit zu gewinnen, daß weder die genealogische Absperrung unbedingten Schaden noch das Oeffnen aller sonst die — legitimen oder illegitimen — Geschlechtsverbindungen hemmenden Schranken schlackenlosen Nutzen bringen. (Wir denken hier nur ans rein Biologische, doch man kann auch mit einigem Fug Folgerungen für die geschichtliche Betrachtung w:e für die praktische Politik daraus ableiten.) Wir dürfen noch weiter gehen. Papierene Gebote und Verbote, Ideologien, die schönsten wissenschaftlich vermeinten Theorien schaffen eine Erfahrung nicht aus der Welt, die der Soziologie durch die das Experiment ersetzende Praxis der genealogischen Fakten verbürgt wird: in jeder Gesellschaft, unter jeder einmal stabilisierten Ordnung, bricht die Tendenz zur Abschirmung der führenden Schichten von den weniger Privilegierten, der durch Beruf, Nachbarschaft oder Weltanschauung miteinander Verbundenen von den übrigen Zeitgenossen durch. Auch in der klassenlosen Gesellschaft oder dort, wo diese als Idealziel gefeiert und erstrebt wird. Diese Absonderung aber wird genealogisch unterbaut und auf diese Weise, sogar dem Buchstaben der Gesetze oder den pathetisch beteuerten Prinzipien zum Trotz, fest verankert. Deshalb haben sich in den, jede auf ihre Art demokratischen beiden Weltmächten, den USA und der UdSSR, zwar die Möglichkeiten zum raschen Aufstieg allen denen weit geöffnet, die vom Glück begünstigt, durch Geschicklichkeit und mitunter durch überragende Begabung oder beschützt von einflußreichen Protektoren aus den Tiefen bis ganz oben emporkommen. Doch ist jemand einmal oben angelangt, so bestätigt sich an ihm, daß gleich und gleich sich gerne gesellen; zumal in der Ehe. Die amerikanischen Upper Ten sind eine Aristokratie eigener Art, in die man nicht sofort durch viel Geld hinein- , kommt, sondern erst nach einer „etape neces-saire“ und alsdann auf dem Weg über eine entsprechende Heirat.

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