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Genealogie

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Es gibt kaum eine zweite Wissenschaft, über die in weiten Kreisen so irrige Ansichten herrschen, wie über die Genealogie. Genealogie war ursprünglich die bloße Kunde von irgendwie berühmten, geschätzten Vorfahren. Derlei Nachrichten hatten außer dem unmittelbaren Zweck, Tatsachen' zu melden, noch den weiteren, in einer ständisch gegliederten Gesellschaft Ansehen, die Zugehörigkeit zu einer privilegierten Schicht zu sichern. Im Altertum berichteten genealogische Sagen die Abstammung der Könige und der Helden von Göttern und Halbgöttern. Später, im Mittelalter, wurde das Wissen von den eigenen Vorfahren nötig, um die Blutsreinheit, die vornehme Herkunft zu erweisen, auf der die bevorzugte Stellung der Edel- und Hochgeborenen beruhte. Die Nützlichkeit, ja die Notwendigkeit eines Ahnennachweises dauerte in mancher Hinsicht bis ins 19. Jahrhundert fort. Geistliche Pfründen, Hofwürden waren an den Besitz einer bestimmten Zahl adeliger oder gar hochadeliger Vorfahren ge bunden. Darüber hinaus haftete die soziale Geltung eines Menschen daran, ob seine Familie seit geraumer Frist Amt, Rang und Reichtum besaß. Die Genealogie und ihre Jünger waren also dazu berufen, den Ruhm erlauchter Geschlechter zu erzählen, sich mit den Vornehmen und mit deren Verwandtschaft zu befassen. Sie taten das um klingenden Lohn und ernteten dafür geringe Achtung bei den Auftraggebern, wachsende Abneigung bei denen, die der illustren Ahnen entbehrten. Wie man über den Wert jener Skribenten dachte, das bezeugt das französische Sprichwort „mentir comme un genealogiste“, „lügen wie ein Genealoge“. Wissenschaftliches Interesse dagegen, und damit verbunden wissenschaftliche Methoden waren freilich bei den gelehrten Historikern vorhanden, die sich mit den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Herrschern oder einflußreichen Familien beschäftigten, als mit Fakten, die für den Geschichtsablauf stets Bedeutung hatten. Darüber hinaus hatte aber die Genealogie keine wissenschaftliche Aufgabe; sie blieb eine bescheidene Hilfsdisziplin der Geschichte.

Das wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts anders. Ausgangspunkt für die gewaltige Erweiterung des Forschungsgebiets der Genealogie bildeten die Erkenntnisse der modernen Biologie, im besondern die der Vererbungslehre. Seit wir das, was seit jeher geahnt und gefühlt worden war, systematisch untersuchen, nämlich den Zusammenhang zwischen Abstammung und der Vererbung seelischer und leiblicher Eigenschaften, ist die Genealogie zur Grundige alles exakten Erforschen dieser Dhige geworden. In ihrer heutigen Form ist sie die L e h r e von den auf Abstammung beruhenden Zusammenhängen zwischen Lebewesen. Sie umfaßt also auch den Bereich der Pflanzen und der Tierwelt. Im engeren Sinne aber widmet sich die Genealogie den abstammungsmäßigen Zusammenhängen zwischen den Menschen.

Sie hat zunächst sammelnden und beschreibenden Charakter: das Aufspüren und Feststellen von Verwandtschaften. Beginnend mit der einfachsten Tatsache, dem Verhältnis zwischen Kind und Eltern, bis zu den verwickeltsten Blutbeziehungen, muß die Genealogie die Menschen nach Familien des Mannesstamms oder nach sonstigen Blutsgemeinschaften gruppieren. Dabei entwickelt sie Forschungsmethoden, die in ein umfängliches System gebracht worden sind und die allen Anforderungen einer scharfsinnigen Kritik Rechnung tragen. Nichts ist heute übrig von der Liebedienerei, der blinden Hörigkeit an Legenden. Mit der subtilsten Genauigkeit und ohne Nebenabsichten werden die Zusammenhänge geprüft; nichts wird verschwiegen, nichts wird verschönt. Nationale, gesellschaftliche Vorurteile spielen keine Rolle. Man verschweigt weder Eheirrungen oder illegitime

Sprossen, noch peinliche Verwandtschaften und Verschwägerungen. Nur ein Ziel überwiegt alles andere: die wirkliche Abstammung festzustellen. Auf das so verbürgte Tatsachenmaterial kann hernach die Genealogie ihre weiteren Ergebnisse aufbauen, mit der sie, wie gesagt, mehreren Wissenschaften dient.

Sie hat zunächst gegenüber der gesamten menschlichen Vererbung d i e Rolle zu erfüllen, die beim Erforschen der Vererbung bei Tier und Pflanze dem Experiment zukommt. Gemäß unseren Anschauungen können wir nicht Menschen miteinander kreuzen, um danach die Gesetze der Heredität zu beobachten, wie das bei Fauna und Flora möglich ist. Wollen wir studieren, welchen Einfluß Verwandtschaft, beziehungsweise Abstammung auf den Erwerb oder das Übertragen seelischer und leiblicher Eigenschaften ausüben, dann müssen wir einen umgekehrten Weg beschreiten; nicht etwa zuerst die Kreuzung vornehmen und dann deren Resultate betrachten, sondern aus schon geschehenen Verbindungen zwischen den Menschen lernen, was dabei an biologischen Ergebnissen herausgekommen ist. Mit andern Worten: wir betrachten eine Gruppe von Individuen, die miteinander durch Blutsverwandtschaft verknüpft sind, wir sehen, was sie miteinander gemeinsam haben, und gelangen durch den Vergleich zahlreicher Genealogien dazu, die Regeln der Vererbung, die Wege der Heredität zu erkennen.

Selbstverständlich ist es der wissenschaftlichen Genealogie gleichgültig, welchen Völkern, welcher gesellschaftlichen Klasse die Personen angehören, mit denen sie sich befaßt. Es geht ja nicht mehr darum, hier einem Junker römische Patrizier als Ahnen zuzuschreiben, dort einem reichgewordenen Parvenu die Abkunft von mittelalterlichen Gaugrafen zu erschwindeln. Wenn sich die Forscher etwa darum bemühen, die Vererblichkeit der Anlage zu Mehrlingsgeburten oder der Nachtblindheit zu beleuchten, dann sind für diesen Zweck Bauern und städtische Proletarier gerade so geeignet, wie Fürsten oder Adelige. Die wichtigsten Ergebnisse über erbliche Idiotie, über die Sechsfingrigkeit, über erblichen Wandertrieb sind an Blutsgemeinschaften aus den sogenannten unteren Volksschichten erprobt worden. Allerdings ist eines nicht zu vergessen: wenn wir umfangreiche Erörterungen anstellen, so ist das Quellenmaterial leichter bei sozial Bevorzugten zu finden, über deren Leben genügend schriftliche Zeugnisse vorliegen, als bei Armen und Geringen, deren Erdenwallen fast spurlos verklungen ist. Deshalb kommt auch heute noch der Genealogie der früher privilegierten Schichten eine gesteigerte Bedeutung zu.

Die mannigfachsten Probleme tauchen auf, wenn man die Ahnentafeln betrachtet. Da ist der sogenannte Ahnenverlust, auch Ahnengleichheit oder Ahnenschwund genannt. Es handelt sich um folgendes: nach der bereits erwähnten Regel zählt jede Ahnengeneration das Doppelte an Mitgliedern der ihr vorangehenden. Hat jeder Mensch 1024 Ahnen der zehnten Vorfahrenreihe, so muß er rund eine Million der zwanzigsten, rund eine Milliarde der dreißigsten Generation besitzen. Bis dahin könnte man noch zur Not annehmen, daß die auf der Erde lebenden Menschen ausreichen, um alle Felder der Ahnentafel auszufüllen. Die Vernunft wendet aber schon da ein, daß viele Sterbliche ohne Nachkommen dahingeschieden sind, daß ferner ein Europäer kaum amerikanische Indianer des frühen Mittelalters zu Vorfahren haben dürfte, daß endlich die Bewohnerzahl unseres Planeten vor 1000 Jahren, also dreißig Generationen zurück, weit unter einer Milliarde betragen hatte. Noch klaffender wird der Widerspruch zwischen der mathematisch geforderten und der möglichen Ahnenzahl, wenn wir von der 30. zur 40. Generation zurückwandern, also etwa ins Jahr 600 n. Chr. Da kämen wir auf eine Billion Ahnen und das sind wohl zehn- tausendmal soviel Menschen, als es damals gab. Der Verstand bliebe ratlos stehen, brächte uns nicht eine Beobachtung zahlreicher Ahnentafeln die Auflösung eines im leeren Raum unentwirrbaren Rätsels: die theoretische stimmt mit der wirklichen Ahnenzahl nicht überein. Denn jeder Mensch stammt, je weiter wir rückwärts schauen, um so öfter von einem und demselben Ahnen ab, der also mehrmals, vielmals in der Vorfahrenschaft auftritt. Um ein berühmtes Exempel zu wählen: Karl der Große ist hunderttausendemal Ahne heute lebender Fürsten und ohne Zweifel auch aller jetzt lebender „gemeinen Sterblichen“.

Damit haben wir schon zwei weitere bedeutsame Lehren der modernen Genealogie berührt, durch welche irrige populäre An sichten über den Haufen geworfen werden. Was ist nicht über die schädlichen Wirkungen der „Verwandtenehen“, der „Inzucht“ gesprochen worden. Nun zeigt sich bei aufmerksamer Beobachtung, daß jede Verbindung zweier Menschen eine „Verwandtenehe“ sein muß, daß es sich nur darum dreht, wie weit die Verwandtschaft zurückreicht, in welcher Generation der erste gemeinsame Ahne beider Gatten zu finden ist. In geschlossenen Siedlungen, wie in abgelegenen Alpendörfern, oder in Kreisen, die eine verhältnismäßig enge Auswahl bei der Heirat haben, ist die Verwandtschaft der Eheschließenden meist recht nahe. Das hat aber an sich keine schädlichen Folgen. Inzucht, nahe Verwandtschaft verstärkt nur die Wahrscheinlichkeit der Vererbung von Eigenschaften, die der gemeinsame Ahne beider Gatten besaß. Sind diese Eigenschaften gut, dann bringt die Inzucht Segen, im gegenteiligen Falle freilich Unheil.

Ein anderes Fehlurteil, das durch die wissenschaftliche Genealogie erschüttert wird. Man nimmt meist an, daß die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Klassen starr sind. Wenn wir bemerkten, daß Karl der Große Ahne heutiger Bauern und Arbeiter ist, wird das der Unzünftige für einen schlechten Scherz oder für eine unbeweisbare Tatsadie halten. Nun kann man zum Beispiel in der Schweiz auf das schönste und genaueste den Weg vom alten Kaiser bis zu Hunderten, Tausenden von Eidgenossen in bescheidenster Stellung verfolgen. Wetterwald hat „Karolingernachkommen in der Schweiz“ (1947) aufgezeigt. Aus dem schon zitierten Buch von Rübel und Ruoff („Ahnentafel Rübel-Blass“, 1939) läßt sich die Abstammung so ziemlich des gesamten Zürcher, Berner, Basler Patriziats von Karl dem Großen ablesen, und es ist eine Kleinigkeit, von wohlhabenden Bürgern der genannten drei Städte zu Bauern und Arbeitern zu gelangen.

Karl der Große erinnert uns an ein drittes Problem, das der „starken Ahnen". Wir finden nämlich, beim Erforschen zahlreicher Ahnentafeln, daß gewisse berühmte, auch biologisch starke Persönlichkeiten weit öfter in den Vorfahrenreihen erscheinen als heute vergessene Menschen. Das legt die Vermutung nahe, daß zwischen Vererbungskraft und persönlichem, seelischem oder körperlichem Wert ein Zusammenhang besteht. Sehr fesselnd ist ferner die Frage danach, ob der Platz, den ein Ahne innerhalb der Vorfahrenschaft einnimmt — nähe oder ferne zum Nachkommen, Ahne der rein männlichen, der rein weiblichen oder einer dem Geschlecht nach gemischten Linie —, für die Vererbung von Wichtigkeit ist. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch ist von Vererbung nur die Rede, soweit wir auf die Vorfahren der rein männlichen Linie, des Vaterstammes blicken, höchstens berücksichtigt man noch die Familie der Mutter. Ganz unzutreffend behauptet man Vererbung vom Onkel, von der Großtante usw. In Wirklichkeit kann eine Erbanlage von jedem Vorfahren herrühren, selbst wenn die Abstammung fünf- und zehnmal durch die weibliche und abwechselnd durch die männliche Linie vermittelt wird. Von einem Onkel aber kann man keine Eigenschaft erben: es ist nur möglich, daß Onkel und Neffe gemeinsam eine Eigenschaft von einem Ahnen geerbt haben, zum Beispiel von dem, der des Onkels Vater und des Neffen Großvater war.

Wir haben nur die verwirrende Menge der Probleme angeschnitten, die sich der wissenschaftlichen Genealogie von heute darbieten. Sie umfassen die Gesamtheit menschlicher Beziehungen, Fragen, die für den einzelnen und für die Gesamtheit von höchstem Belang sind. Sowohl rückschauend, zur Erklärung des Bestehenden aus seinem Werden, als vor- wärtsbückend nach dem Sollen — als biologische Hygiene, die aus den Erfahrungen lernt — hat die Genealogie wichtige Aufgaben gelöst oder sie ist im Begriffe, sie zu lösen. Längst ist sie nicht mehr eine Angelegenheit für Sonderlinge und ahnenstolze Fossilien, sondern eine der Hauptgrundlagen für die Erkenntnis des Menschen und der Gesellschaft.

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