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Die Zeit, in der sie lebten

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Es waren die allerletzten Jahrzehnte des guten Gewissens der herrschenden Schichten in Europa, es war la belle epoque. Das Elend flößte den Reichen nicht nur keine Bedenken ein, sondern verstärkte im Gegenteil ihre Gewißheit, daß sie in jeder Hinsicht überlegene und daher eines besseren Schicksals würdige Menschen sein müßten, da ihnen doch im Überfluß all das zuteil wurde, was anderen versagt oder nur kärglichst zugemessen wurde. Gleichviel, ob ererbt oder erworben, brauchte der Reichtum im Angesichte des Elends nicht entschuldigt zu werden, sondern entschuldigte seinerseits alle Vorrechte, selbst das Privileg, im Genuß jene sittlichen Forderungen zu ignorieren, deren strengste Beachtung man von den anderen, vom Volke heischte. Auch wer den geringsten Anteil an der Macht hatte, leitete daraus für sich Sonderrechte ab. Schein und Widerschein vervielfachten Macht im Bewußtsein all jener, die ihr, selbst auf der niedrigsten Stufe, dienten; die Regierten ihrerseits glaubten an das Recht der Mächtigen; sich zuweilen über jene Gesetze hinwegzusetzen, deren Schutz ihnen anvertraut war. Der Kaiser, der mit 18 Jahren den Thron bestiegen hatte, regierte nun schon länger als ein halbes Jahrhundert. Sein Glaube an das Gottes-gnadentum blieb unerschütterlich bis zum letzten Tag seines sechsund-achtzigjährigen Lebens. Seinen Untertanen war Franz Joseph schon längst kein Landesvater mehr, sondern ein Großvater, überdies eine unantastbare Institution, deren Ende viel mehr als den Tod eines Monarchen bedeuten und Schlimmeres als die Entthronung einer alten Dynastie herbeiführen konnte. Denn genau in dem Ausmaß, wie die Völker der Doppelmonarchie national bewußt zu werden begannen und sich langsam aus „Nationalitäten“ in präsumptive Staatsnationen verwan-elten, wurde ein höchst eigentümlicher Sachverhalt offenbar: Daß man ein Österreicher war, hing mit diesem alten Mann zusammen, immer mehr mit ihm als mit dem Zufall von Geburtsort und Abstammung.

Man muß wissen, daß das heute so oft erwähnte und mancherorts frenetisch diskutierte Thema der nationalen Identität im Reiche Franz Josephs schon vor dem Ende des 19. Jahrhunderts eine ungewöhnliche Aktualität erlangte. Dies galt — aus naheliegenden Gründen — ganz besonders für die jüdischen Untertanen des Kaisers in all seinen Kronländern, aber auch in Wien, in dem so viele von ihnen während jener Jahrzehnte eine neue und, wie viele glaubten, fortab unverlierbare Heimat fanden. In diesem Sinne waren die jüdischen Staatsbürger im erzkatholischen Reich die verläßlichsten: die echtesten aller Österreicher. Kafka war so wenig ein Tscheche wie Joseph Roth ein Pole, Sigmund Freud so wenig ein Ukrainer oder Pole oder Mährer wie Schnitzler ein Ungar. Sie und alle ihresgleichen hatten eine Identität gemeinsam, die mit jedem Tag fraglicher wurde — sie waren Österreicher.

Die österreichische Umwelt jener Zeit war nicht zuletzt durch das zudringliche Überleben des Vorgestrigen und die charmant-arrogante Vordringlichkeit des Gestrigen gekennzeichnet. „O du lieber Augustin, alles ist hin“ sang man seit Jahrhunderten in heiterster Lebensstimmung. „Da habt's mei letztes Krandl“ (im Wiener Dialekt für Krone) bot man den Trinkkumpanen oder der nächtlich leeren Straße mit der gleichen Unernsthaftigkeit an. Was „hin“ war, das Verblichene feierte zum“ Zeitvertreib fröhliche Urständ, das letzte Krandl vermehrte sich nach Bedarf. Der Aberglaube nistete überall, nicht nur in den katholischen Ländern, wo die Kirche ihn förderte und mit unfehlbarem Geschick ausnutzte. So zum Beispiel auch bei den Juden, die besonders in den slawischen Teilen der Doppelmonarchie in sich geschlossene, strenggläubige Gemeinschaften bildeten* ,^^ i>n . Die deutende, „zersetzende“, jeder Art von überliefertem Vorurteil und Aberglauben feindliche Psychologie war im Anfang bis zu einem gewissen Grade tatsächlich eine Jewish Science, doch war sie nicht weniger eine Austrian Science. Sie war das Produkt einer überalterten, absurd ungleichmäßig gereiften, das heißt in vielen Bereichen unreif-faulenden Zivilisation, in welcher Liebe und Tod, geistiger Opfermut und selbstgerechte Heuchelei, wahre Kunst und schamlose Künstlichkeit nicht etwa nur nebeneinander, sondern miteinander in einer von allen laut abgelehnten, doch — heimlich, vielleicht auch unbewußt — sehnlich begehrten Promiskuität eine Existenz teilten, deren theatralischer Charakter um so auffälliger wurde, je mehr man sich dem tragischen Ende näherte. „Eh scho wissen,“ war ein kaum noch von Zwinkern begleitetes Schlüsselwort Es deutete an, daß alles, alles Komödie war, daß zum Beispiel die lebensgefährliche Liebe halt nur eine Liebelei wäre, daß es sich um eine Hetz' oder „an Schmäh“ handeln mochte, daß „es sich gehörte“, stets zu tun, als ob man es nicht wüßte. „Gar net ignorieren!“ so lautet die Forderung, das Unangenehme ganz entschieden zu ignorieren.

Bimfr tat so, als spielte er in dieser Komödie mit, und er verlieh ihr verschwenderisch Worte und Einfälle: Arthur Schnitzler. Einer weigerte sich mitzuspielen und wurde zum Hasser der vorherrschenden hypokritischen Sittlichkeit, die Verderbnis über das Liebesleben brachte so gut wie über Kunst und Politik. Der Hasser, einer der beredtesten Männer unseres rhetorischen Jahrhunderts , hieß Karl Kraus. Schitzler, dessen frühe Erzählungen, wie Freud selbst anerkannte, die Psychoanalyse ankündigten, Korl Kraus, der intransigemte Enthüller von Heuchelei und Lüge — sie beide und manche ihrer österreichischen Zeitgenossen brachten ohne jeglichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gar manche neuen Erkenntnisse auf, die ihrem Wesen nach nicht sehr verschieden waren von denen jener Männer, die sich an Mittwochabenden in Freuds Wohnung in der Berggasse zusammenfanden, ehe sie auseinandergebracht wurden durch all das, was an jedem von ihnen das Beste und was das Schlechteste sein mochte. Weil sie Österreicher und Juden waren in einer Zeit der drohenden und schließlich erfolgten Umbrüche, der Untergänge und der gewaltsamen Ubergänge, setzten sie ihr Letztes daran, zu erfahren und vor allen Augen aufzuzeigen, was der Mensch ist, und herauszufinden, wie er sein könnte und was er werden müßte. Ihnen ging es um den integralen Menschen: um sein Unbewußtes so gut wie um sein Bewußtsein, um sein niemals totales Selbstverständnis sowie um die Mißverständnisse und Mißdeutungen, hinter denen er sich selbst und den anderen verbirgt; es ging ihnen um seine ganzen und um seine halben Wahrheiten, um seine Urteile und Vorurteile, um seine Vorwände und um seine Träume.

Wie die permanente ästhetische Revolution, die sich damals durchzusetzen begann, die Unmittelbarkeit an Stelle des trompe-l'oeil und künstlerische Wahrheit an Stelle aller Künstlichkeit setzen wollte, so mußten jene Psychologen den Zeitgenossen den Mut einflößen, sich selbst zu erkennen und „zu werden, was man ist“. Somit auf die Fassade zu verzichten und sich ohne die Gebärde der Komöde und ohne jene Zeremonie, von der Montaigne sprach, zu sich selbst zu bekennen, damit sie fähig würden, sich zu ändern.

Und gaben sie selbst, diese Psychologen, das Beispiel solchen Gelingens? Dagegen sprechen nicht zuletzt die vielen, gar zu vielen Zwistigkei-ten und jene Brüche, die fortab den Haß nährten.

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