7111401-1995_50_20.jpg
Digital In Arbeit

Ein Typ von gräßlicher Authentizität

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn ein berühmter Autor stirbt, ist er deswegen noch lange nicht tot. Erst wenn die Gesammelten Werke erscheinen, ist er wirklich tot. Tot in dem Sinne, daß er kein Ärgernis mehr darstellt. Man kann den Vorgang etwas mildern, indem man die Gesammelten Werke Werkausgabe nennt. Das klingt nicht so endgültig. Es war daher rücksichtsvoll von Herausgeber Traugott Krischke, Helmut Qualtinger lediglich eine Werkausgabe zuzumuten.

Der erste der fünf Bände ist da. Er enthält die wichtigen Bühnentexte. Etwa den „Beigen 51", den Qualtinger gemeinsam mit Carl Merz und Michael Kehlmann schrieb, der am 30. Oktober 1951 im Konzerthaustheater uraufgeführt und insgesamt 125mal gespielt wurde - einer der großen Theatererfolge der Nachkriegszeit. Nachkriegstypen treiben es darin mit Nachkriegstypen, Arthur Schnitzlers Erben strengten einen Prozeß wegen der Paraphrase auf dessen „Beigen" an, wohl vor allem deshalb platzte die von Qualtinger damals glühend erhoffte New Yorker Aufführung. Es war die Zeit, in der er seine Streiche gegen ihm unsympathische Leute ausheckte, aber als Johanna Schidlo, die begnadete, früh verstorbene Teppichweberin und Graphikerin, dem schon damals Wohlbeleibten nach der Premiere beim Betreten des Art-Club-Lokals „Strohkoffer" unter der Loosbar „Servas, Wiener Schnitzler!" entgegenrief, reagierte er auf das Gelächter gar nicht gnädig.

Der Band enthält, nebst anderem, „Alles gerettet", „Die Hinrichtung", aber vor allem den „Herrn Karl". Merz und Qualtinger verwerteten die Erzählungen eines Geschäftsdieners Max, der NS-Parteigenosse gewesen war und dessen Familienname vergessen ist. Diesem Anonymus verdankt „Der Herr Karl" seine gräßliche Authentizität.

Was waren die hervorstechenden Züge des Herrn, in dem sich viele erkannt haben müssen, weil sonst die Fernsehsendung im November 1961 nicht solche Empörung ausgelöst hätte? Herr Karl, wie ihn Merz und Qualtinger sahen, war vor allem ein Opportunist, der es sich unter allen Verhältnissen gerichtet hat. Und ein verlogener Opportunist, der für alles, was er tat, immer auch eine Entschuldigung bei der Hand hatte. „Der Herr Karl" handelt vom Benehmen eines Anpassers in der Nazizeit und von seiner Selbstrechtfertigung. Denkt man über den österreichischen Volkscharakter nach, kommt man am Herrn Karl nicht vorbei. Nicht „der" Österreicher ist so, aber Millionen waren so. Haben sie sich geändert?

Wien und Österreich, das ist bekanntlich nicht dasselbe. Doch der politische Charakter Wiens war für die österreichische Politik immer von besonderer Bedeutung. Nicht nur, weil es einen hohen Prozentsatz der Wähler beherbergt, sondern vor allem, weil Österreich lange ein sehr zentralistisch regierter Staat blieb. In Wien aber entstand im Laufe von Jahrhunderten eine ganz besondere Haltung gegenüber der Politik und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die schließlich im Herrn Karl mündete.

Dieses Prachtstück von einem Kleinstbürger belügt keineswegs nur die anderen, sondern ebenso konsequent, und vor allem, sich selbst. Geht man ihm auf den Grund, findet man Besignation, Wirklichkeitsflucht und ein Verhältnis zur Obrigkeit, das große Ähnlichkeit mit dem der aufsässigen, aber äußerlich devoten Domestiken in Johann Nestroys Komödien hat. Man findet Angst, die Welt, in der man lebt, und die Umstände, unter denen man leben muß, so zu sehen, wie sie sind. Vor allem aber findet man die, nach Nestroy, „edelste aller Nationen" - die Besignation. Herr Karl ist vor allem ein Mensch, dem schon vom Vater und Großvater her die Überzeugung im Blut liegt, daß man „eh nichts ändern kann".

Qualtingers Herr Karl erzählt seinem unsichtbaren jungen Gegenüber, wie er 1938 den Hitler einmarschieren sah und wie er immer und überall dabei war. Wenn es brannte, wenn irgendwo ein Unglück geschehen war, rannte er hin. Er war hart im Nehmen - nämlich im Hinnehmen alles Schrecklichen, das anderen geschah. Er konnte auch brutal austeilen, doch mit sich selbst hatte er immer großes Mitleid.

Nur wenig verallgemeinert, gab es in Österreich zwischen den Weltkriegen zwei Typen: Die, die weltanschaulich so oder so verankert und bereit waren, für ihre Überzeugung Opfer zu bringen, oft aber auch, ihre Ideen auf Kosten der Freiheit der anderen durchzusetzen. Sie waren ferne Nachfahren jener ungebärdigen Wiener, die Wien jahrhundertelang zu einer schwer regierbaren, widersetzlichen, kaum in den Griff zu kriegenden Stadt machten. Daneben aber gab es jene, die nur irgendwie durchkommen wollten. Genau diesen zweiten Typ hat die Geschichte Wiens in überreichem Maß produziert.

In vielen großen Städten kämpften im vorigen Jahrhundert Proletariat und Bourgeoisie diesseits und jenseits der Barrikaden gegeneinander. Aber in Wien gab es beides nur in abgeschwächter Form. Dem Proletariat wurde 1848 das Bückgrat gebrochen, kaum, daß es zum Bewußtsein seiner Stärke erwacht war. Dem Wiener Bürgertum war nie ein Bückgrat gewachsen. Joseph II. leitete eine aktive Industriepolitik mit Investitionsanreizen ein. Seine Nachfolger haben dieses Werk zerschlagen und verfügten sogar eine Bannmeile rund um Wien, innerhalb der keine Industrie angesiedelt werden durfte. Die französische Bevolution drückte ihnen auf den Magen. Sie hatten begreiflicherweise Angst vor der Arbeiterschaft. Aber die Bannmeile bedeutete Massenarbeitslosigkeit und bitterste Not.

1848 eilte Karl Marx nach Wien, um die Arbeiterschaft in seinem Sinn zu beeinflussen. Aber was gab es hier schon an Arbeiterschaft? Es gab halbverhungerte Erdarbeiter, zerlumpte Handwerksburschen, hungernde Tagelöhner, revolutionäre Studenten. Wer etwas zu verlieren hatte, verschloß, als es ernst wurde, seine Tür. In Deutschland hatte das Bürgertum ein Erfolgserlebnis, das nachwirkte. Herrn Karl vermittelte das Jahr 1848 nur die Lehre, daß man am besten fährt, wenn man sich nicht auflehnt: „Es hat ja eh alles keinen Sinn!" Sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, hatte er nie gelernt. Er hatte gelernt, sich an die Macht anzulehnen und hinter vorgehaltener Hand zu maulen.

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es wieder ein paar jener in der Wiener Geschichte so spärlich gesäten Jahrzehnte, in denen der kleine Mann Mut fassen konnte. Der Erste Weltkrieg machte alle Hoffnungen zunichte. Die der Christlichsozialen genauso wie die der Sozialdemokraten. Kein weltanschauliches Lager glaubte an die Lebensfähigkeit dessen, was der Friedensvertrag von Saint Germain von Österreich übriggelassen hatte.

Niemand konnte den Menschen mehr bieten als Hoffnungen und Versprechungen. Die Gegenwart war für die einen so trist wie für die anderen. Umso kompromißloser traten sie ge^ geneinander an. Und umso klüger kam sich der Herr Karl vor, wenn er sich heraushielt.

Der Herr Karl ist ein armer Hund mit einem miesen Charakter. Sein mieser Charakter ist die Folge seiner Armut, denn Not macht die Menschen selten edler. Lang anhaltende Not bricht den Charakter. Herr Karl ist das Produkt lang anhaltender geistiger und materieller Not.

Nachdem Österreich 1945 befreit worden war, lernte er nach langer Zeit, wieder an sich und seine Zukunft zu glauben. Wie in der Zwischenkriegszeit, gab es auch jetzt die engagierten „Boten", die engagierten „Schwarzen" und dazwischen den Herrn Karl, der sich heraushielt. Was ihn aber nicht hinderte, sich nun, da die beiden Großparteien über ein Füllhorn von kleinen und großen Vorteilen verfügten, Wohnungen, Aufstiegsmöglichkeiten, kleine und große Jobs, massenhaft der einen oder anderen anzuschließen. Dies kam dem Bedürfnis, sich an die Macht anzulehnen und notfalls unter die Fittiche der Macht zu flüchten, das dem Herrn Karl in Jahrhunderten antrainiert worden war, sehr entgegen. Einst hatte es nur den alten Herrn in Schönbrunn gegeben, jetzt konnte man eben zwischen zwei Herren wählen.

Man kann ein solches Verhalten charakterlos nennen. Aber damit ändert man es nicht. Gegen Herrn Karls Kleinlichkeit und Engstirnigkeit, seine Interesselosigkeit, seine Überzeugung, daß „eh nix nützt" und jeder ein Idiot ist, der sich engagiert, seine aus dem Neid kommende Bosheit kann nur der Beweis helfen, daß es anders ist. Es genügt nicht, ihm mehr zu essen zu geben - im Gegenteil, die Hingabe an Speis und Trank hat seit je zu seinen Strategien gehört, ungeliebter Wirklichkeit zu entfliehen. Einen „Backhendelfriedhof" schleppte er immer vor sich her, wenn es ihm nicht gerade ganz arg ging, und selbst ein durchtrainierter Herr Karl ist noch immer ein Herr Karl. Der durchtrainierte Herr Karl ist geradezu der repräsentative Herr Karl unserer Zeit.

Das einzige, was dem Herrn Karl den Garaus machen kann, sind Aufstiegsmöglichkeiten für viele. Heute aber gibt die Arbeitsplatzvernichtung wieder einmal dem Herrn Karl recht. Und er sucht, statt Chancen, sich zu beweisen, Anlehnung.

Ist Jörg Haider Herrn Karls Mann? Er hat Charisma. Er stellt nicht nur Machtansprüche, er verspricht auch den Schwachen Schutz. Und er beschimpft die Pfründenwirtschaft der Großparteien, die dem Herrn Karl noch gestern Schutz und Schirm boten - jetzt haben sie ihm nichts mehr zu bieten, also tritt er sie, wie er es in solchen Fällen immer gerne tat. Selbstverständlich wählt nicht nur der Herr Karl den Herrn Haider. Dessen Erfolg etwa im nationalen Kärnten beruht auf einem anderen Typ als dem Herrn Karl.

Aber der neue Zulauf Haiders ist mit der Spezies Karl hoch angereichert, weshalb die Wahlen zeigen werden, ob er endlich wirklich zum Auslaufmodell geworden ist.

BHELMUT QUALTINGER WERKAUSGABE

Herausgeben Traugott Krischke. Erster Band: „Der Herr Karl und andere Texte fürs Theater". Verlag Deuticke, Wien 1995. 384 Seiten, geb., bei Abnahme aller Bände öS 348,-, sonst öS 398,-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung