Werbung
Werbung
Werbung

Einst hat sie der Menschheit einen Evolutionsvorsprung beschert. Heute wartet sie oft erfolglos auf weitere Enkerln: Eine kleine Kulturgeschichte der Großmutter.

Selten waren Großeltern mit ihren Enkeln in der öffentlichen Wahrnehmung so präsent wie heute: Wir treffen sie im Park, auf den Spielplätzen, in Zoos und Museen. Dank Internet und Telefon sind selbst weit entfernt lebende Omas und Opas mit ihren Enkeln verbunden; manche Forscher sprechen deshalb sogar schon von einem "Jahrhundert der Großeltern“.

Dabei ist vor allem die Großmutter ein erstaunliches Phänomen, das sich in dieser Form nur beim Menschen und bei den Menschenaffen findet: Nur bei ihnen leben die Weibchen noch längere Zeit nach dem Ende ihrer Reproduktionsfähigkeit und können deshalb die jüngeren Artgenossinnen bei der Nahrungssuche und der Fürsorge für die Nachkommen unterstützen. Die Folge war ein eindeutiger Evolutionsvorsprung, wie sich herausgestellt hat. Dennoch gab es lange Phasen in der Menschheitsgeschichte, in denen die Großeltern kaum oder weniger präsent waren - was vor allem daran lag, dass "Familie“ in früheren Jahrhunderten etwa anderes bedeutet hat als heute.

Die heilige Anna als Prototyp

Das Konzept von Familie als Zusammenleben von Mutter, Vater und Kindern, wie wir es gegenwärtig kennen, entstand im Mittelalter. Zur Gründung einer Familie brauchte ein Paar eine wirtschaftliche Basis, daher verschob sich das Heiratsalter seit dem Mittelalter sukzessive nach hinten. Die Folge war, dass viele Enkel durch die späte Heirat ihrer Eltern und den relativ frühen Tod der Großeltern diese nicht mehr erleben konnten. Ein erster Hinweis auf eine verstärkte Wahrnehmung einer besonderen Rolle der Großmutter ist im Spätmittelalter die Zunahme der Verehrung der heiligen Anna, der Großmutter Jesu. Mit ihr wurde eine Frau verehrt, die in ihrer Mutterschaft und Fürsorge als vorbildlich galt und im Vergleich zur Gottesmutter Maria deutlich diesseitiger, bodenständiger, dem "normalen“ Frauenleben näher war. Sie war quasi ein erster Protoyp der helfenden, unterstützenden Großmutter

Wirklich "erfunden“ wurde die Rolle der Großmutter freilich erst im 18. Jahrhundert: Da das Heiratsalter der bürgerlichen Frauen etwas gesunken war, konnten immer mehr ältere Frauen ihre Enkelkinder erleben. Noch bedeutsamer war jedoch die Veränderung der gesellschaftlichen Familien- und Ehevorstellungen durch die Reformation, die Französische Revolution und den Aufstieg des Bürgertums: Alle drei Entwicklungen trugen zu einer stärkeren Trennung von öffentlichem Leben und Erwerbstätigkeit einerseits sowie privaten Raum andererseits bei. In der bürgerlichen Familie trennte sich damit die Erwerbstätigkeit von der Familie, sowohl räumlich als auch personell: Lehrlinge wohnten nicht weiter im Haus des Meisters, Schüler nicht mehr bei ihren Lehrern. Dieses Ideal konnte allerdings nur die bürgerliche Schicht teilweise umsetzen, für Bauern und Bäuerinnen sowie für Arbeiter und Arbeiterinnen im entstehenden Industrie- und Heimarbeitsbereich galt diese Trennung von Arbeit und Privatleben keineswegs. In der bürgerlichen Familie aber sollte die Frau den Gegenpol zur harten Welt des Erwerbs bilden, wobei den Großmüttern dabei vor allem die kulturelle Erziehung und Bildung der Enkel zugewiesen wurde, insbesondere jene der Enkelinnen. Zunehmend zogen Großmütter deshalb in den Haushalt ihrer Kinder - "Großmutter zu sein“ wurde zu einer wichtigen Station im Leben der bürgerlichen Frauen.

Später, im 19. Jahrhundert, setzte sich die Rolle der gefühlsbetonten, fürsorglichen Großmutter als Ideal durch. Im bürgerlichen Milieu entwickelte sich das Bild der weißhaarigen Oma mit Haube auf dem Kopf und Brille auf der Nase, die ihre Enkelkinder auf dem Schoß hält und ihnen erzählt. Die wachsende Bedeutung dieser weiblichen Rolle kann man auch daran erkennen, dass Großmütter seit dieser Zeit in den Erinnerungen ihrer Enkel erwähnt bzw. von Schriftstellern verewigt werden. Die Großmutter von Marcel Proust etwa lebt in seinem Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ bis heute weiter. Und auch das wohl populärste Prosawerk der tschechischen Literatur ist einer Oma gewidmet: In ihrem Roman "Babiˇcka“ aus dem Jahr 1855 schildert die Schriftstellerin Boˇzena Nˇemcová ihre Kindheit, in deren Mittelpunkt ihre weise, gütige und liebevolle Großmutter Magdaléna Novotná stand.

Es gab jedoch auch schon unter den Großmüttern jener Zeit Frauen, die sich nicht dem Idealbild entsprechend verhielten: Die Schriftstellerin Bettina von Arnim, die selbst von ihrer Oma erzogen worden war, engagierte sich lieber für die schlesischen Weber, die exilierten Polen und die Cholerakranken - woraufhin sich einige ihrer Kinder von ihr distanzierten. Und die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm trug lieber kurze Haare statt eines Dutts und war politisch bis an ihr Lebensende engagiert.

Die Mehrheit der Großmütter konnte freilich nicht wählen, ob sie dem neuen Ideal entsprechen wollte oder nicht. In den Familien der Bauern und der Arbeiter des 18., 19. und auch noch 20. Jahrhunderts bestand die Rolle der Großmütter vor allem darin, die junge, kräftige und für den Broterwerb einsetzbare Frau zu entlasten. Im Zuge der Industrialisierung verstärkte sich die Unterstützung der jungen Familien durch die Großmütter noch: Alt und Jung waren aufeinander angewiesen.

Selbstverwirklichung statt Babysitting

Im 20. Jahrhundert schließlich nahm die Bedeutung der Großmütter noch zu: Zwar begannen in den 1920er-Jahren auch Großmütter, mehr Freiheiten für sich zu entdecken, die meisten jedoch verharrten in ihren traditionellen Rollen. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde eine jüdische Großmutter entweder aus Deutschland vertrieben oder aber deportiert und ermordet; zwei jüdische Großmütter machten aus einem Kind schon einen "Mischling ersten Grades“, der selbst von der Deportation bedroht war. Am Ende des Krieges, als die Männer als Soldaten an den Fronten waren und in Kriegsgefangenschaft kamen, waren es Frauen jeglichen Alters, die Flucht und Vertreibung erleben mussten und denen zugleich die Fürsorge der Kinder oblag.

In der Nachkriegszeit bis hinein in die 1960er-Jahre blieb die Rolle der Großmutter erst einmal unberührt. Erst im Laufe der 1970er- und 80er-Jahre weigerten sich mehr und mehr Frauen, als Omas ausschließlich im Dienst der Familie zu stehen und ihre Lebensziele mit der Geburt des ersten Enkels aufzugeben. Reisen, Sport, Freundschaften, Wohngemeinschaften und politische Aktivitäten wurden zunehmend bedeutsam.

Heute ist die Wahrscheinlichkeit für Frauen, Großmutter zu werden, trotz sinkender Kinderzahlen so hoch wie noch nie; gleichzeitig hat ein Großteil der Großmütter nur ein Enkelkind oder findet sich in komplizierten Patchworksituationen wieder, in denen die Zahl der Omas jene der Enkel nicht selten übersteigt. Beste Voraussetzungen also für die Prägekraft dieser ganz besonderen, generationenüberspringenden Beziehung.

Die Autorin lebt als freie Historikerin in Berlin. 2009 ist ihr Buch "Oma ist die Beste“ erschienen (siehe links).

Oma ist die Beste

Eine Kulturgeschichte der Oma. Von Juliane Haubold-Stolle. Vergangenheitsverlag 2009, 139 Seiten, brosch., e 12,90.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung