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Großfamilie - entromantisiert

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Wir werden umdenken müssen, auch wenn der junge kanadische Professor der Soziologie Edward Shorter mit seinen Schlußfolgerungen über den Wandel der Familie etwas oberflächlich und leichtfertig vorgeht. Um so ernster ist seine wissenschaftliche Beweisführung zu nehmen, die räumt mit einigen liebgewordenen Klischees über Groß- und Kleinfamilie, „sexuelle Revolution“ und Mutterliebe gründlich auf.

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Wir werden umdenken müssen, auch wenn der junge kanadische Professor der Soziologie Edward Shorter mit seinen Schlußfolgerungen über den Wandel der Familie etwas oberflächlich und leichtfertig vorgeht. Um so ernster ist seine wissenschaftliche Beweisführung zu nehmen, die räumt mit einigen liebgewordenen Klischees über Groß- und Kleinfamilie, „sexuelle Revolution“ und Mutterliebe gründlich auf.

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Was Shorters historische Forschungsarbeit von der seiner Vorgänger unterscheidet, ist die Wahl seiner Quellen. Von der richtigen Annahme ausgehend, daß immer nur das (Fami- lien-)Leben gehobener Bevölkerungsschichten Gegenstand von Erzählungen und Memoiren war, greift er auf Unterlagen zurück, die sich mit den 95 Prozent einfacher Leute beschäftigt haben: Aufzeichnungen von Landärzten, Pfarren und Verwaltungsbeamten des 18. und 19. Jahrhunderts. Demnach scheint nun so manches anders gewesen zu sein, als man bisher annehmen mußte - oder wollte.

In der vielgerühmten Großfamilie der vorindustriellen Zeit, derwir heute so sehnsüchtig nachweinen, ging es meist gar nicht sehr hebevoll zu, und von Familienatmosphäre im heutigen Sinn konnte schon gar keine Rede sein. Die völlig auf den Existenzkampf konzentrierten Bauern- und Handwerkerfamilien hatten für Werte wie Liebe oder Intimität gar keine Zeit. Geheiratet wurde nach streng von der Gemeinschaft kontrollierten und ausschließlich materiellen Normen. Selbst die ärmsten Familien lebten mit fremden Dienstboten und Gehilfen in winzigen Wohnungen oder Bauernhäusern, die dem einzelnen auch nicht eine Spur von Freiraum ließen. Das Leben des einzelnen stand unter ständiger Beobachtung der Gemeinschaft, sein Gefühlsleben ebenso wie sein Arbeitsleben.

Den geringsten Freiraum hatten in dieser starren patriarchalischen Ge- seUschafts- und Familienstruktur die Frauen; die zum Überleben unbedingt notwendige Festlegung auf Ge-

schlechterrollen engte sie weit mehr ein als die Männer. Die Kinder mußten das Elternhaus schon sehr jung verlassen, um Geld zu verdienen und die Familie wirtschaftlich zu entlasten. Im bäuerlichen Bereich fand zwischen den Generationen und zwischen dem ältesten und den jüngeren Brüdern ein permanenter Kampf um den Hof statt.

Die einsetzende Industriealisierung und das Wachsen der Städte bauten die in erster Linie auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhenden Verwandtschafts- und Gemeinschaftsbeziehungen allmählich ab. Die Bedürfnisse des einzelnen traten immer stärker in den Vordergrund, zunächst bei den wirtschaftlich schwächeren Schichten, später auch bei den Begüterten, die noch Werte zu vererben hatten. So setzte das, was Shorter die „erste sexuelle Revolution“ nennt, zuerst bei der breiten Masse ein: die „romantische Liebe“, die die Wahl des Ehegatten auf Grund persönlicher und von den wirtschaftlichen Erwägungen der Gemeinschaft unbeeinflußter Gefühle ermöglichte. So entstand die Kleinfamilie als Rest der zerfallenen Interessengemeinschaft Großfamilie in den unteren Schichten und stellte eine neue, auf „Privatheit“ begründete Einheit dar.

Die Mutterliebe war hingegen eine Entdeckung des durch die Marktwirtschaft entstehenden Mittelstandes. In Adels- und Großgrundbesitzerfamilien wurden die Kinder nur in Ausnahmefällen von der Mutter betreut und großgezogen, dafür standen Gouvernanten zur Verfügung. Für die Kinder der wirtschaftlich schwachen Schichten gab es ein Heer von Ammen. Ihre Kleinkinder aufzuziehen, war für die in der täglichen Arbeit völlig eingesetzte Mutter nicht mögüch. Ob Kinder am Leben blieben oder nicht, war weder in der Ober- noch in der Unterschicht eine Frage, die die Gemüter besonders belastete. Da die wirtschaftliche Situation der Reichen ihnen die größeren Überlebenschancen gab, war hier die Kinderzahl - mehr Kinder wuchsen auf! - größer. Erst die Kleinfamilie mit ihrem „romantischen Gefühl“ für persönliche Beziehungen ließ, Shorter zufolge, Häuslichkeit und Mutterliebe entstehen.

Die Konsequenzen, die er in seinem äußerst interessanten und sachlich fundierten Buch andeutet, mögen beunruhigen: weiterer Zerfall der Paarbeziehungen und Verlust elterlicher Autorität. Ein Denkanstoß sind sie unbedingt.

„DIE GEBURT DER MODERNEN FAMILIE“. Von Edward Shorter. Aus dem Amerikanischen von Gustav Klipper, Rowohlt-Verlag, Hamburg, 1977, 360 Seiten, öS 208,60.

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