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Plädoyer für eine „bewahrende Progressivität“

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Das Fortschrittskonzept der verflossenen Dekaden stößt an Grenzen. Die Sinnfrage steht wieder im Mittelpunkt der Diskussion: Was bedeutet erfülltes

menschliches Leben? Was heißt Lebensqualität? Nach dem vor fünf Jahren veröffentlichten Buch „Prognosen für Österreich“ legten nun die beiden Wissenschafter Christof Gaspari und Hans Millendorfer ihr neues Werk „Konturen einer Wende - Strategien für die Zukunft“ vor. Darin loten sie unser derzeitiges gesellschaftliches System nach seinen Schwachstellen aus, registrieren solche vor allem im außerökonomischen Bereich und reden einer „Revolution der Hoffnung“ das Wort. Ihr Motto: „Die Zukunft braucht ein Programm der bewahrenden Progres-sivität: konservativ in obersten Sinnfragen, progressiv in notwendigen Maßnahmen.“ Im folgenden einige Kernsätze zum Thema Familie:

Unter Wandel der Gesellschaft wurden seit zweihundert Jahren im wesentlichen die Folgen der Industrialisierung verstanden. Der Industrialisierungsprozeß hatte eine Änderung der Lebensbedingungen zur Folge. Die Diskussion um die Famüie stand unter dem Zeichen ihrer Anpassung an die

sich durch die Industrialisierung ändernde Umwelt. Hauptthemen dieser Diskussion waren die Auflösung der sozialen Gefüge, in welche die Kernfamilie eingebettet war, z. B. die Auflösung der Großfamilie und der Gemeinschaften, die Abnahme der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung der Familie, die Übernahme mancher So-zialisierungsaufgaben durch andere Institutionen (beispielsweise Kindergarten, Schule und Betrieb), die Problematik der berufstätigen Frau und

der dadurch entstehenden Schwierigkeiten der Kindererziehung usw.

Es ist ein Widerspruch, einerseits die Notwendigkeit überschaubarer Gruppen im Produktionsbereich zur Überwindung der extremen Arbeitsteilung etwa am Fließband zu betonen und gleichzeitig diese zu überwindende, extreme Arbeitsteüung in den Bereich der Famüie zu übertragen (z. B. duroh Abgeben der Kinder an „Spezialisten“, wie Kinderkrippen und Tagesmütter).

Es nützt nichts, gegen die Wegwerftechnologie im Produktionsbereich zu

Felde zu ziehen und gleichzeitig „Wegwerfehen“ und „Wegwerfembryos“ zu erfinden und an der Entwicklung von „Wegwerfpatienten“ zu arbeiten. Diese Barbarei, ihre Widersprüchlichkeiten und Anachronismen werden verschwinden, wenn die tiefe Erschütterung des Fortschrittkonzepts, das auf dem Glauben an die technische Machbarkeit von allem, einschließlich des Glücks, beruhte, zu einer Metamorphose des Fortschritts führt, nach der der Mensch nicht Die-

ner des Fortschritts, sondern der Fort-schritt Diener des Menschen ist.

Die Feststeüung, daß die Familie die effizienteste Einheit zur Erzeugung von Wohlfahrt und der Verwendung von materieüen und immateriellen Faktoren ist, bedeutet nicht, daß ihre Leistungsfähigkeit bei dieser Aufgabe nicht erhöht werden sollte: im Gegen-

teü, die neue geschichtliche Situation verlangt von der Famüie gerade die Erhöhung der Wirksamkeit des Einsatzes materieller Güter bei ihrer Aufgabe.

Jede „Entlastung der Famüie“, die zugleich zu einer Einschränkung ihres Funktionsbereiches führt, untergräbt die effizienteste Produktionsstätte für Lebensqualität. Zweitbeste Lösungen

(das heißt z. B. „Auffangnetze“ für Not-fäUe wie Kinderkrippen, Altersheime usw.) dürfen nicht zu Normlösungen werden - die Krücke darf nicht grundsätzlich an die Stelle des Beines treten.

Wir haben die Aufgabe, die Einengung, die der Familie durch die indu-strieüe Entwicklung widerfahren ist, wieder zu überwinden. Die Großfami-

lie im alten Sinn ist durch diese Entwicklung mehr oder weniger verschwunden und wird in dieser Form nicht wieder hergesteUt werden. Es gut daher nicht, die Form zu übernehmen, wohl aber, gewisse Funktionen der Großfamilie in neue Formen einzubauen, also etwa Strukturen zu schaffen, die zwar nicht an die SteUe der Kleinfamüie treten, sondern die eine Famüie von Famüien darsteUen.

Durch den dramatischen Geburtenrückgang wurde die demographische Stabilität gefährdet. Projiziert man nämlich die Geburtenentwicklung des vergangenen Jahrzehnts in die Zukunft, so erkennt man, daß in hundert Jahren in Europa eine Reproduktionsrate von 0,5 zu verzeichnen sein wird. Das bedeutet, daß sich in jeder Generation die Bevölkerung um die Hälfte reduzieren würde. A. G.

KONTUREN EINER WENDE -STRATEGIEN FÜR DIE ZUKUNFT, Christof Gaspari und Hans Millendorfer, Verlag STYRIA, 1978, 356 Seiten, öS 359-

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