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Geschichtswissenschaft nur ein Teilgebiet

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Jede Sozial- und Geisteswissenschaft hat eine Betrachtung der Vergangenheit entwickelt, gleichgültig ob es sich um die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, die Philologie usw. handelt. Fast jeder dieser Wissenschaftszweige machte einmal eine Phase mit, in der es eine „historische Schule“ gab, die zwar oft in Diskussion mit anderen Richtungen stand, in irgendeiner Formr aber die Gesamthaltung der betreffenden Disziplin fördernd beeinflußte. In der Nationalökonomie hatte die Historische Schule des 19. Jahrhunderts etwa die wissenschaftliche Begründung der Statistik und der Sozialpolitik zur Folge.

Die Gefahr bei dieser an eine besondere Disziplin gebundenen historischen Betrachtung lag (und liegt noch) darin, daß man die Vergangenheit nur unter einem ganz bestimmten Fachgesichtspunkt beitrachtete und die übrigen Zusammenhänge außer acht ließ. Am deutlichsten drückt sich dies in der Kunstgeschichte aus, die aus dieser einseitigen Sicht überhaupt keinen Zusammenhang mit der politischen oder sozialen Geschichte zu haben scheint; beste Kenner der Kunstgeschichte sind heute am historischen Werden oft vollkommen uninteressiert. Daß ein Porträt aus der Renaissancezeit nur seiner „Schönheit“ wegen gewertet wird und nicht aus seiner Zeit verstanden werden soll, wie das heute die allgemeine Auffassung ist, zeigt deutlich, daß ein eigentlich historisches Verständnis verlorengegangen ist.

Weil sich die Bindestrich- Geschichtswissenschaften (zum Bei spiel Rechtsgeschichte) nur mehr der Entwicklung ihres Faches widmeten, verloren sie innerhalb des betreffenden Faches ihre Position; sie mußten zugunsten anderer Aspekte (etwa der Mathematik oder Soziologie in der Volkswirtschaftslehre) zurücktreten.

So ist es gekommen, daß alle Bindestrięh-Hjstorįe nur mehr als „Anhängsel“ gesehen wird oder sie wurde, was hoch schlimmer ist, als Untermauerung einer These herangezogen; es ist zur Gewohnheit geworden, aus dem Müllhaufen der Geschichte das herauszuziehen, was gerade in den Kram paßt, ohne auf die Zusammenhänge zu achten.

Folgen und Auswirkungen der Degradierung

Die wesentlichste Folge der dargestellten Fehlentwicklung ist die Tatsache, daß wir weitgehend geschichtslos geworden sind: Wir haben die Beziehung zu dem Gewordenen verloren. Der Alltag lebt heute wie auch früher nur in der Gegenwart. In der Wissenschaft, besonders in den sogenannten Sozialund politischen Wissenschaften, denkt man lediglich mehr an die Zukunft.

Selbstverständlich gehört Spekulation zu jeder Wissenschaft; man bedarf aber einer Basis, auf der man seine spekulativen Gedanken aufbauen kann. Aus Verachtung für den historischen Unterbau nimmt man als Basis immer stärker die Mathematik oder die Soziologie zur Hand, die ebenfalls unhistorisch sind. Eine wesentlich andere Basis kann jedoch die Geschichte bieten. Nicht die Wirtschafts-, Rechts-, Kunst- oder eine andere Geschichte, sondern die Universalgeschichte. Da aber festgestellt wurde, daß eine solche als Lehrfach heute, zum Großteil aus Verschulden der Historiker selbst, nicht vorhanden ist, haben sich die Sozialwissenschaften nach einer Ersatzbasis umgesehen. Das Ergebnis aber ist unbefriedigend.

Möglichkeiten einer Aufwertung

Es gibt Ansatzpunkte zu einer universelleren Betrachtung der Geschichte, sowohl von Seite der Geschichtsforschung selbst (besonders im Rahmen der Sozialgeschichte, wie sie Otto Brunner darstellt), wie vor allem aber auch aus Anregungen anderer Wissenschaftszweige. Max Weber hat vor Jahrzehnten schon von der Soziologie her einen Weg gewiesen, der allerdings nur zögernd beschritten worden ist; auch Müller-Armack hatte mit seiner Genealogie der Wirtschaftsstile eine Universalgeschichte, allerdings bewußt beschränkten Umfangs, gebracht. Es ist wesentlich festzuhalten, daß von Seiten der Nichthistoriker diese Anregungen kamen, so daß man vermuten muß, daß dort auch das Bedürfnis zu verspüren ist, in der Geschichte mehr zu sehen als das, was heute noch die Masse der Historiker darin zu spüren vermeint.

Ein weiterer Ansatzpunkt liegt darin, daß man heute die Frage nach dem, was man unter Bildung versteht, neu anschneidet. Die Diskussion, ob der Bildungsbegriff nur auf Grund einer Konvention zu fassen ist oder ob er nicht mehr als das ist, ist noch nicht ernsthaft angelaufen. Noch wichtiger erscheint, daß das Vernachlässigen des historischen Denkens zu einer Fehlentwicklung vieler Wissenschaftszweige geführt hat. Es ist sicher, daß gerade die Spezialisierung, die heute um sich greift, wesentlich durch den Verlust der historischen Basis verursacht wurde. In einer Zeit, in der „pluralistisch“ verschiedene Weltanschauungen und philosophische Richtungen gleichrangig nebeneinander zu stehen scheinen, und auf Grund der unterschiedlichen Wertvorstellungen, Spekulationsmodelle sehr disparater Art für die Zukunft zu fabrizieren, hat die Besinnung auf die Geschichte eine noch wichtigere Funktion als in Zeiten stärkerer geistiger Einheit.

Diese Funktion gilt es zu erhalten. So lange aber nicht in der Geschichtswissenschaft selbst dieses Bewußtsein ihres eigentlichen Wertes durchgedrungen ist und damit eine neue Auffassung in Forschung und Lehre sich durchgesetzt hat, bleibt es vorerst nur dabei, möglichst viel in die Zukunft zu retten. Deshalb der verzweifelte Kampf der Lehrer an Höheren Schulen um die Erhaltung der „Geschichte“ als reines Fach und gegen die Verwässerung durch Verbindung mit modern klingenden Namen, die wahrscheinlich nur eine Zeiterscheinung bleiben werden.

Das Ziel muß es sein, auch in Zeiten noch umstrittenen Bildungsbegriffes die Erkenntnis zu vermitteln, daß Geschichte als Lehr- und Forschungsfach kein beliebig auszuwechselnder Faktor der Bildung ist, sondern das einzige Fach auf empirischer Ebene, das das Bild der Welt als ganzes vermitteln kann.

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