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Agrarf abriken oder Bauernhöfe?

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Nicht nur die ländlichen Strukturen, sondern das Bauerntum in seiner Gesamtheit unterliegt einem dynamischen Wandel, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Im ersten Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg stand in Europa die Produktionssteigerung im Mittelpunkt der Agrarpolitik, während derzeit Fragen der Vermarktung und Absatzsicherung das Hauptproblem bilden. Die österreichische Landwirtschaft deckt aus ihrer Produktion rund 84 Prozent des heimischen Ernährungsbedarfes. Dieser hervorragende Leistungsausweis wird aber überschattet durch die Tatsache, daß die Erzeugung einiger Produkte — Milch und Brotgetreide — zum Teil die Bedürfnisse des Marktes erheblich übersteigt.

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Nicht nur die ländlichen Strukturen, sondern das Bauerntum in seiner Gesamtheit unterliegt einem dynamischen Wandel, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Im ersten Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg stand in Europa die Produktionssteigerung im Mittelpunkt der Agrarpolitik, während derzeit Fragen der Vermarktung und Absatzsicherung das Hauptproblem bilden. Die österreichische Landwirtschaft deckt aus ihrer Produktion rund 84 Prozent des heimischen Ernährungsbedarfes. Dieser hervorragende Leistungsausweis wird aber überschattet durch die Tatsache, daß die Erzeugung einiger Produkte — Milch und Brotgetreide — zum Teil die Bedürfnisse des Marktes erheblich übersteigt.

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Die nicht marktkonforme Produktion ist überhaupt die große Klippe der europäischen Agrarpolitik, so daß eine konsequente Strukturanpassung, wie Mansholt sagt, unbedingt notwendig ist, wobei diese vom rein betriebswirtschaftlichen Sektor auf die Gesamtsituation der Landwirtschaft in der wachsenden Industriegesellschaft ausgedehnt werden muß.

EWG-Vizepräsident Dr. Skco Mansholt hat der Brüssler Kommission Ende 1968 seine agrarische Strukturreform für Europas Bauern unter dem Titel „Landwirtschaft 1980“ vorgelegt. Das Studium dieser 70sedtigen Arbeit läßt folgendes Urteil zu: Es ist das radikalste, revolutionärste und höchstwahrscheinlich auch visionärste Agrarprogramm, das in den letzten Jahrzehnten publiziert wurde. Die Senkung der Preise für pflanzliche Produkte, ein neues Milchkonzept, die Neuordnung der Strukturpolitik sowie die künstliche Schaffung von Großbetrieben sind die Schwerpunkte des Reformplanes. Die Zahlen, mit • denen Mansholt argumentiert, muten fast unglaublich, mindestens aber beängstigend an: Bis 1980 sollen fünf Millionen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft ausscheiden und fünf Millionen Hektar aus der landwirtschaftlichen Produktion genommen werden. In der Rinderwirtschaft zielen die Maßnahmen darauf ab, den Milchkuhbestand um drei Millionen Stück zu verringern. Des weiteren schwebt Mansholt die Zusammenfassung von Bauernhöfen zu „Produktionseinheiten“ und „modernen landwirtschaftlichen Unternehmen“ vor, auf denen mehrere Familien arbeiten. Eine Million Betriebe sollen im Nebenerwerb weiter bewirtschaftet werden. Der EWG-Vizepräsident lehnt den Familienbetrieb als agrarpolitisches' Leitbild ab und fordert in seinem Programm, daß sich die staatlichen Hilfen vorwiegend auf moderne Unternehmen konzentrieren mögen. Als Übergang wird die Bindung von Betriebsgemeinschaften durch Zusammenschluß oder Aufstockung vorgeschlagen. Im Reformplan sind auch die Mindestgrößen für die zukünftigen „Agrarfabriken“ genannt. Danach wären für einen Getreidehackfruchtbetrieb 80 bis 120 Hektar optimal, 40 bis 60 Kühe für den Grünlandbauer; 150 bis 200 Mastrinder, 460 bis 600 Mastschweine und 10.000 Legehennen bzw. 100.000 Masthühner sind die Normen für Spezialbetriebe.

Alle Maßnahmen, die sich unmittelbar auf die Abwanderung aus der Landwirtschaft, auf die Stillegung von Böden und die Schaffung neuer Betriebe beziehen, werden zur Hälfte aus dem EWG-Agrarfonds finanziert. Für proäiiktionspöHtische'- Maßnah-' men ist an eine dreißigprozenüge. Beteiligung des EWG-Fonds gedacht. Die Gesamtausgaben für die EWG-Agrarpolitik sind für den Zeitraum von 1970 bis 1973 mit umgerechnet jährlich 117 Milliarden Schilling veranschlagt. Davon entfallen auf die Strukturpolitik 65 Milliarden Schilling und 52 Milliarden Schilling auf die Markt- und Preispolitik. Für die Zeit nach 1973 ist mit einem Ansteigen der Ausgaben auf jährlich 156 Milliarden Schilling gerechnet, die je zur Hälfte für die Struktur- bzw. Markt- und Preispolitik zu verwenden sind. Schon kurz nach dem Vorliegen der Arbeit „Landwirtschaft 1980“ setzte die Kritik ein. Mansholts Reformplan wurde mehr gescholten denn gepriesen. So beklagte sich etwa der westdeutsche Landwirtschaftsmini-ster Höcherl über das mangelnde politische Einfühlungsvermögen des Vizepräsidenten und bezeichnete seine Vorschläge als exdstenzverhich-tend. Der Deutsche Bauernverband anerkennt den Reformplan nicht einmal als Diskussionsgrundlage. Auch die Stellungnahmen aus Frankreich und Italien sind eher reserviert. Österreichs Landwirtschaftsminiister Schleimer, ein überzeugter Anhänger des bäuerlichen Familienbetriebes, meinte, daß die EWG-Strukturpolitik zu denken gebe. Bundeskanzler Klaus sagte, Mansholts Vorstellungen hätten für Österreich keine Gültigkeit.

Historisch gewachsene, durch Jahrhunderte bewährte Strukturen und das standesspezifische Berufsethos der Bauern lassen sich nicht in wenigen Jahren grundlegend ändern. Die Dynamik der Industriegesellschaft sorgt nämlich für eine „natürliche“ Strukturbereinigung im agrarischen Bereich. So wandern z. B. aus der österreichischen Landwirtschaft jährlich 20.000 Menschen ab, und auch die Höfezahl ist im Sinken; Spezialisierung und Rationalisierung werden von Jahr zu Jahr spürbarer. Es gilt diesen Prozeß wirtschaftlich verantwortungsvoll zu koordinieren, seine Folgen sozial zu mildern. Schließlich wird es auch für die westeuropäischen Industrieländer schwierig sein, Millionen Bauern und Landarbeiter in den nächsten Jahren in die Volkswirtschaft zu integrieren. Die Frage, ob Mansholts Vorstellungen Realität oder Vision seien, kann, wenigstens für bergbäuerlich strukturierte Landwirtschaften, beantwortet werden: Agrarfabriken eignen sich als agrarpolitisches Leitbild nicht. Für uns. gilt nach wie vor das sozio-ökonomi-sche Modell des Familienbetriebes, der Stabilität und Anpassungsfähigkeit an die Verschiedenen sozialen Systeme schon oft bewiesen hat.

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