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Atomare Maginotlinie ?

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Abgesehen von Historikern und Experten der internationalen Politik werden wohl die wenigsten Zeitgenossen noch wissen, welches bedeutende Ereignis sich am 30. August 1954 in Paris abspielte. An diesem Tag traf das französische Parlament eine Entscheidung, die bis heute Nachwirkungen zeitigt. Denn damals verwarfen die Abgeordneten mit 319 gegen 264 Stimmen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), besser bekannt unter dem Titel Europaarmee. Es war gerade Frankreich, welches das Projekt entwickelte, eine gemeinsame europäische Streitkraft aufzubauen. Mit diesem Plan — als Urheber zeichnete der überzeugte Europäer Pleven — versuchte Paris den Wunsch der angelsächsischen Verbündeten nach Aufstellung deutscher Divisionen zu verhindern.

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Abgesehen von Historikern und Experten der internationalen Politik werden wohl die wenigsten Zeitgenossen noch wissen, welches bedeutende Ereignis sich am 30. August 1954 in Paris abspielte. An diesem Tag traf das französische Parlament eine Entscheidung, die bis heute Nachwirkungen zeitigt. Denn damals verwarfen die Abgeordneten mit 319 gegen 264 Stimmen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), besser bekannt unter dem Titel Europaarmee. Es war gerade Frankreich, welches das Projekt entwickelte, eine gemeinsame europäische Streitkraft aufzubauen. Mit diesem Plan — als Urheber zeichnete der überzeugte Europäer Pleven — versuchte Paris den Wunsch der angelsächsischen Verbündeten nach Aufstellung deutscher Divisionen zu verhindern.

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Die Soldaten der Bundesrepublik sollten nur in kleinen Einheiten die NATO-Verbände unterstützen, und das Schreckgespenst der Franzosen, ein deutscher Generalstab, wäre dadurch nicht möglich gewesen. Besonders die beiden christlichdemokratischen Parteien CDU und MRP rankten um dieses Gebilde eine Art von Mystik. Da der damalige Außenminister Robert Schuman es nicht wagte, den EVG-Vertrag zwecks Ratifizierung sofort der Kammer vorzulegen, bildete sich in Frankreich eine Anti-EVG-Koalition, zusammengesetzt aus den heterogensten Kräften. Natürlich stimmten die Kommunisten dagegen. Aber auch die Gaullisten taten alles, um das Projekt zu torpedieren. Ein Teil der sozialistischen Fraktion und Abgeordnete der gemäßigten Rechten verteufelten die europäische Armee, die selbst von markanten Einzelpersönlichkeiten, wie Edouard Herriot und dem Grafen von Paris, abgelehnt worden war.

Oft kann man in westlichen diplomatischen Kreisen die Auffassung hören, man dürfe die europäische Defensive nicht zu stark international aktivieren, da dies von der Sowjetunion als Provokation aufgefaßt werden könnte. Dabei wird der

Öffentlichkeit selten gesagt, daß die östliche Hauptmacht in den letzen Jahren eine gigantische Aufrüstung realisierte, wobei ein Flottenprogramm dem Westen zeigt, daß Moskau von jedem Punkt des Planeten aus angreifen kann. Anläßlich der WEU-Tagung wurden Zahlen publiziert, die selbst dem sanftesten Antimilitaristen Stoff zum Überlegen geben. Es wird berichtet, daß die Sowjetunion in ihrem Glacisstaat DDR 500.000 Mann stehen hat, wie auch die russischen Divisionen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn aufgefüllt wurden. Mehr als 35.000 Panzer stehen zwischen Elbe und Dnjepr. Diese gewaltige Streitkraft wird von 5000 Flugzeugen' modernster Bauart unterstützt. Während in den westlichen Hauptstädten die Tatsachen oft heruntergespielt werden, müssen die europäischen Politiker, die so gerne nach Peking wallfahrten, von den chinesischen Gesprächspartnern hören, wie sehr der westliche Teil des Alten Kontinents in Gefahr ist.

Eingeweihte Pariser Kreise rechnen jedoch nicht mit der russischen Dampfwalze, die kurzfristig über den Rhein zur Atlantiks und Mittelmeerküste vorstößt. Aber der Kreml wird, so nehmen zahlreiche Beobachter an, das gewaltige Potential in die Waagschale werfen, um eine Neutralisierung des Westens, bekannt unter dem Schlagwort „Finnlandisierung“, zu erzielen. Nachdem aus den letzten Äußerungen der Sowjetführung hervorgeht, daß Moskau trotz der Schlußakte von Helsinki nicht daran denkt, den ideologischen Kampf einzustellen und der EG eine Atempause zu gewähren, wird die Frage wieder akut, wie man sich am besten gegen diese untergründige Bedrohung zur Wehr setzen kann.

Bei diesen Überlegungen nimmt die Rolle, die Frankreich zu spielen gedenkt, einen großen Platz ein. Aus geopolitischen Gründen hat die V. Republik eine absolute Schlüsselstellung. Dazu kommt, wie der Staatspräsident Giscard d'Estaing kürzlich triumphierend erklärte, der Umstand, daß sein Staat gegenwärtig die dritte Atommacht des Planeten ist. Aber gerade bei dieser Feststellung entdeckt man eine gefährliche Lücke in der westlichen Verteidigung. Schon in den dreißiger Jahrein hatte der französische Generalstab nahezu alles auf eine Karte gesetzt, als er glaubte, in den gewaltigen Festungsanlagen der Maginotlinie werde jede aus dem Osten kommende Offensive verbluten. Doch die Divisionen Adolf Hitlers ließen die Befestigungslinie außer acht, umgingen sie und stießen über Belgien vor. Gegenwärtig wird eine Art atomarer Maginotlinie gezogen. Paris hat sich vor allem auf die autonome Atomstreitmacht konzentriert, verschweigt aber oft, daß dieses Konzept von den amerikanischen Infrastrukturen der NATO abhängt. Obwohl die Armee Frankreichs durchaus ein Faktor ist, kann sie sich in keiner Weise mit der Ausrüstung und Ausbildung der deutschen Bundeswehr vergleichen.

So muß Paris in den letzten Tagen dieses Jahres zur Kenntnis nehmen, daß Bonn zur Zeit die beste klas-

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