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Steg über den Abgrund

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Es war, zumindest in den Augen der politisch denkenden Kreise, ein ungeheures Wagnis, den Deutschen evangelischen Kirchentag 1951 ausgerechnet in Berlin zu veranstalten. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Parole „Wir sind doch Brüder“ gerade auf Berliner Boden einen verwirrend vielfältigen Klang bekommen würde. Darum war die anläßlich der Eröffnungsfeier in der Marienkirche im Ostsektor abgegebene Erklärung des Kirchentagspräsidenten Dr. von Thadden-Trieglaff wohl am Platze: „Mit denen, die unserem Vorhaben so oder so einen politischen Sinn unterstellen, haben wir nichts zu tun.“

Der Präsident der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck,

nahm mit Mitgliedern der ostdeutschen Regierung und Vertretern des Magistrats von Ostberlin an dieser Eröffnungsfeier teil. In seinem Begrüßungsschreiben hatte Wilhelm Pieck auf die „unzerstörbare Einheit Deutschlands“ hingewiesen. An den Häuserwänden im Ostsektor grüßten Plakate „die friedliebenden Christen in der Hauptstadt Deutschlands“. Und den Teilnehmern am großen Männertreffen im Walter-Ulbricht-Stadion im Ostsektor wurden Werbeschriften für den Frieden in die Hand gedrückt. Der Präsident der westdeutschen Bundesrepublik, Professor Dr. H e u ß, wies in seinem Begrüßungstelegramm auf die „geistlich-religiöse Einheit“ hin, der Westberliner Bürgermeister Dr. Reuter sprach den Wunsch

aus, daß „alle Teilnehmer in diesen Tagen die unlösbare Verbundenheit von Brüderlichkeit mit Freiheit spüren“. Ost-und Westberliner Magistrat veranstalteten — zeitlich und räumlich getrennt — einen Empfang für die führenden Mitglieder des Kirchentages. An dem Empfang in Westberlin nahmen auch die Bundesminister Hellwege und Kaiser teil.

Zur großen Schlußfeier im Olympiastadion und auf dem Maifeld waren die beiden Regierungen offiziell nicht eingeladen worden. Daß sie dennoch ihre Vertreter entsandten und diese nur wenige Meter voneinander getrennt ihre Plätze einnahmen, * wurde zwar nicht öffentlich erwähnt, aber um so dankbarer von denen aufgenommen, die davon wußten.

So wurde der Berliner Kirchentag zweifellos auch zu einem politischen Ereignis, obwohl er es seinem Wesen nach nicht sein wollte und konnte'. Aber e-r war keine politische Demonstration, weder nach der einen noch nach der anderen Seite. Daß in der Aussprache und nicht zuletzt in dem die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammenfassenden „Wort des Kirchentages“ auch Dinge berührt werden mußten, die im Schnittpunkt politischer Ebenen liegen, darf niemand wundern.

Wir sind doch Brüder

Auf dem Platz vor dem Eingang zum Flughafen Tempelhof wurde kürzlich ein Denkmal enthüllt. Eigenwillig in seiner Form, will es die Erinnerung daran festhalten, daß Berlin im Winter 1948/49 durch die „Luftbrücke“ versorgt wurde. Ob Bischof DDr. D i b e 1 i u s auf dieses Denkmal anspielen wollte, als er davon sprach, daß es Aufgabe des Kirchentages sei, „eine Brücke zu bauen zwischen Ost und West, eine Brücke zwischen Ständen und Parteien, eine Brücke zwischen politischen und kirchlichen Bekenntnissen“? Daß diese Aufgabe nicht leicht ist, wurde ebenso deutlich ausgesprochen: „Wenn wir mit unserem Kirchentag eine Brücke bauen, so sagen wir damit, daß wir den Abgrund kennen, der die Menschen von heute trennt, und daß wir nicht daran denken, diesen Abgrund durch Kompromisse zuschütten zu wollen.“

In vier Arbeitsgruppen wurde der Versuch gemacht, dieser Aufgabe des Kirchentages gerecht zu werden. Das Thema Wir sind doch Brüder — in der Kirche, zu Hause, im Volk, bei der Arbeit“ — wurde in aller Offenheit und Freiheit sowohl in den beiden großen Hallen im Ostsektor wie in den Messehallen beim Funkturm im Westen besprochen. Schon die Fragestellungen: Wozu ist die Kirche da? Wem gehören unsere Kinder? Macht die Macht böse? Wofür arbeiten wir eigentlich? gaben Zeugnis von dem Ernst, mit dem die evangelische Kirche in Deutschland aus ihrer bisherigen Reserve

herauszutreten gewillt ist und den allerorts aufbrechenden Fragen der Schule und Erziehung, der Aufgabe des Staates und nicht zuletzt den sozialen und arbeitsrechtlichen Fragen ihre Aufmerksamkeit widmet. Es muß als ein bedeutsames Zeichen gewertet werden, daß 60 Prozent derer, die sich für die Teilnahme an den Arbeitsgruppen gemeldet hatten, die Gruppe 3 wählten: „Wir sind doch Brüder — im Volk.“ Und es mag als Besonderheit verzeichnet werden, daß der Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof DDr. D i-b e 1 i u s, auf einer Versammlung in der Montagehalle des AEG-Turbinenwerkes Moabit zu 3000 Arbeiter und Arbeite-rnnen sprach und hiebei betonte, daß er nicht als Werbereisender für die Kirche gekommen sei, sondern um zu bekräftigen, daß das Mißverhältnis zwischen der evangelischen Kirche und der Arbeiterschaft endlich aufhören müsse.

Ein Brückenbauen war auch die Kundgebung der Jugend im Walter-Ulbricht-Stadion im Ostsektor. 70.000 Jugendliche sprachen stehend und an den Händen gefaßt das Bekenntnis der Zusammengehörigkeit mit den Worten: „Ihr gehört zu uns, wir gehören zu euch!“ Ein Brückenbauen war auch das Grußwort, das Professor Dr. D o v i f a t als Vertreter des Deutschen Katholikentages bei der Eröffnungsfeier in der Marienkirche sagte: „Ich glaube, die wechselseitige Teilnahme an den Glaubenskundgebungen der großen christlichen Konfessionen ist mehr als nur eine repräsentative Pflicht. Sie ist Bestätigung und Bekräftigung einer in christlichbrüderlichem Geist geübten Zusammenarbeit.“ Und auch das andere soll vermerkt werden: Die katholischen Pfarrämter Berlins forderten spontan ihre Gläubigen auf, für die Gäste des Kirchentages Zimmer zur Verfügung zu stellen.

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