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Bochumer Tat

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Der 73. Deutsche Katholikentag, unter den Fördertürmen und den Hochöfen der Ruhrindustrie in der Stadt Bochum gehalten, wird in der Geschichte des deutschen Katholizismus mehr als ein wohlbeschriebenes schönes Blatt unter vielen anderen sein. Deutsche Bisdiöfe, Politiker von Ansehen, Männer, Frauen, Jugend aller Stände gingen, vor der Brust die — an einem um den Hals gelegten Band befestigte — Nachbildung eines Siedlerhauses, durch die Tage, durch die Beratungen und Kundgebungen, durch die Menschenmassen und erbaten von jedem den Betrag eines Stundenlohnes, damit das erste „Siedlungsdorf des deutschen Katholikentages“ errichtet werden könne. Die anwesenden westfälischen G r o ß g r u n d be s i z e r machten den Grund und Boden für dieses Siedlungswerk zum Geschenk, und wenn nun die Landesregierung, die öffentliche Hand überhaupt, von sich aus ein übriges dazutut, dann werden einhundert Siedlerhäuser gebaut werden. Noch liegt das Gesamtergebnis der Sammlung nidit vor, aber wohin die Sammler kamen, da schlug ihnen herzliche Bereitschaft entgegen.

Daß es zu dieser wochenlang vorbereiteten Sammelaktion kam, ist das Werk und Verdienst eines Mannes, der seit drei Jahrzehnten als Rufer nach einer neuen Bodenordnung durch ganz Deutschland reist, der — zunächst gegen eine große Gegnerschaft — selbst in der Nähe einer rheini schen Industriestadt ein heute von den deutschen Bischöfen, von ausländischen Staatsmännern bewundertes Siedlungswerk vollbrachte und dabei auf nichts anderes gestellt war als auf die eigene Entschlossenheit, auf das Wohlwollen seiner Freunde und die Selbsthilfe der Siedler. Es ist der heute als „Siedlervater" allerwärts bekannte Dr. Nikolaus E h 1 e n, ein Mann von jener wurzelhaften Gläubigkeit, die — wie sein Leben lehrt — wahrhaftig Berge zu versetzen vermag. Vor Wochen forderte er öffentlich von dem Katholikentag „einen Stundenlohn für ein Dorf!" Begeisterte Anhänger halfen ihm, die Vorbereitungen zu finanzieren, und noch in letzter Minute mußte er sie um ein Opfer angehen, weil die Kosten der Flugblätter aufgebracht werden mußten. Er wurde nicht müde, zu mahnen: „Soll der Katholikentag eine zeit gemäße Form erhalten, so muß er aus dem Zustand des Redens allein heraus in den Zustand des lebendigen Tuns.“ Er wird auch jetzt die Hände nicht in den Schoß ldgen, und Ehlens Wort und Beispiel werden weiterwirken. Arbeiterselbst’ hilfesiedlungen am Rande vieler Städte des Rhein- und des Ruhrlandes zeugen davon, daß Ehlen kein Utopist ist und auf eine große Mitarbeiterschaft’ zumal in der deutschen Jugend beiderlei Konfessionen rechnen kann.

Eine Tat, zumindest aber der Durchstoß zu ihr, ist fraglos auch die Forderung nach Mitbestimmungsrecht des Arbeiters in allen sozialen, personellen und wirtschaftlichen Fragen des Betriebes. Mitbestimmungsrecht und Mitverantwortung des Arbeiters sollen gesetzlidi verankert werden. Diese feierlich verkündete Entschließung, die sich von selbst an Bonn wendet, umschließt den Kern dessen, was seit 1945 in fast jeder Zusammenkunft der deutschen Gewerkschaften verlangt wurde. Nur wer das bedenkt, ermißt die Bedeutung des Bochumer Aktes, mit dem nicht allein der offizielle deutsche Katholizismus, sondern auch — dies wurde mit Nachdruck betont — die Kirche, die den Arbeitermassen häufig genug als lebensfremd und wirklichkeitsfern hingestellt wurde, die Forderungen der Arbeiterschaft sich zu eigen machte. Schaffung eines ein- heitlidien Arbeitsschutzgesetzes für da,

ganze Bundesgebiet zum Schutz der Jugend, volle Wahrung aller Ansprüche der jungen Werktätigen auf Erziehung, Bildung, soziale Sicherung gegenüber (bisher bevorzugten) Altersgenossen aus anderen Schichten, maßgeblidier Einfluß der Frau an führender Stelle in Betrieb und Verwaltung sind als weitere Forderungen in diesem Akt enthalten.

Das Verlangen nach Zusammensdiluß der europäischen Staaten zu einem einigen Europa, nach einem Versöhnungsgesetz, das an Stelle der völlig mißratenen Denazifizierung treten soll, entsprang nicht minder der zwingenden Notlage und der energischen Erörterung. Audi der Hilferuf an die Kommission des amerikanischen Kongresses zum Studium der Vertriebene n- frage bedarf der Bekräftigung; 26 Milliarden DM sind nötig, damit den Vertriebenen leidlich geholfen werde. Eine Summe, die das deutsche Volk aus eigenen Kräften niemals auf bringen kann.

Bochum zeigte dem, der sich in den Arbeitsgemeinschaften zu bewegen und hinter den Wortsinn zu horchen vermochte, indes, daß die Entscheidung für fruchtbaren Neubau nicht ohne Überwindung erheblicher Widerstände fällt.

Die Bestrebungen Dr. Adenauers, die gegen eine kräftige Opposition in den eigenen Reiben und gegen die eindringlichen Empfehlungen der deutschen Länderregierungen gebildete „kleine Koalition“, der Verzicht auf die Regierungsteilhabe der SPD und die Anlehnung an liberale Kräfte, die problematische, stark liberalen Tendenzen verhaftete „soziale Marktordnung": das alles hat in breiten Kreisen christlicher Gewerkschaften, insbesondere des jungen christlichen Volkes, wache Sorge und Befürchtung ausgelöst. Die Bochumer internen Besprechungen, in denen die Gegensätze aufeinanderprallten, waren von eben dieser Sorge und Befürchtung überschattet. Es wäre falsch, zu meinen, die Schatten hätten sich allein von den Sonnenstrahlen der gefaßten Resolutionen verscheuchen lassen. Wird die erste deutsche Nachkriegsregierung, das erste deutsche Nachkriegsparlament die Botschaft, die von Bochum aus an Bonn erging, hören und — verwirklichen? Diese ein wenig beklemmende Frage begleitete viele auf den Heimweg. Im Raum der unerbittlichen politischen Realitäten wird sich zeigen müssen, ob die Schwungkraft, die sich in Bochum äußerte, auf die hier verantwortlichen Männer überspringt und das Maß ihrer Einsicht, ihrer .Entschlußfreudigkeit und ihres Eifers bestimmt. In dieser Hinsicht ist dem mutigen Wort des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, der Charakter einer Tat beizumessen; es war auf Bonn gemünzt, wenn er sagte, einseitiger Konservativismus, Verteidigung der bestehenden Ordnung und bloße Abwehr revolutionärer sozialer Bestrebungen seien unfruchtbar. Weder durch eine marxistische Klassenkampftheorie noch durch bürgerliche Antisozialistenkomplexe dürfe man sich von den notwendigen sozialen Reformen abdrängen lassen. „Die eindringlichen Mahnungen der großen sozialen Päpste wurden nicht für Verleger und Buchhändler und nicht für die Bücherschränke der Wissenschaftler und Politiker geschrieben, sondern dafür, daß ein sozialer Wille sie in die Tat umsetzt. Mit einem Ja auf dem Gesicht und einem Nein im Herzen kann dies nicht erreicht werden.“ Dies Wort rief eine spontane Bewegung hervor, und es gehört sicherlich zu den Bekundungen des 73. Deutschen Katholikentages.

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