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Kirche im bunten Kleid

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Wenn auch der 90. Deut- sche Katholikentag offiziell nicht zum gesamtdeutschen erklärt wurde - die Tage in Berlin wurden faktisch zum deutsch-deutschen Katholi- kenfest.

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Wenn auch der 90. Deut- sche Katholikentag offiziell nicht zum gesamtdeutschen erklärt wurde - die Tage in Berlin wurden faktisch zum deutsch-deutschen Katholi- kenfest.

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Die „Zufallsregie" der Zeitge- schichte wollte, daß die erste große gesamtdeutsche Veranstaltung ei- nen christlichen Stempel trug. 150.000 Besucher kamen an die Spree - zum Feiern, Beten und vor allem zum Gedankenaustausch. Das bereits vor Jahren vom Zentralko- mitee der deutschen Katholiken festgelegte Motto aus dem Vater- unser „Wie im Himmel so auf Er- den" hatte seit dem vorigen Herbst seine eigene Aktualität gewonnen.

Denn die Begegnungen zwischen Menschen aus ganz Deutschland und Europa hatten so etwas wie den Glanz himmlischen Frohsinns.

Vor allem die über 35.000 Dauer- teilnehmer aus der DDR machten aus ihrer Freude über das große gemeinsame Glaubensfest kein Hehl. Auf die Frage, ob dieser Ka- tholikentag etwas Schönes für ihn sei, antwortete ein 40jähriger Post- bediensteter aus Ost-Berlin ener- gisch: „Nee, det is nichts Schönes, det is was Wunderbares. Jahrzehn- telang haben wir uns als Christen in diesem SED-Staat verstecken müssen, leise sein müssen. Wir sind gestärkt in unserem Selbstbewußt- sein, denn wir wissen jetzt, daß es da eine ganz große Familie gibt."

Das Klima der Zuversicht, in das dieser Katholikentag getaucht war, schien selbst aus Massenveranstal- tungen ein familiäres Fest zu ma- chen. So mündete der Abschluß- gottesdienst im Berliner Olympia- stadion trotz - odör gerade wegen? -seiner 150.000 Teilnehmer in eine tanzende Demonstration der Hoff- nung auf ein freies Deutschland in einem freien und friedlichen Euro- pa. Es schien, als wollte die Kirche in Deutschland wenigstens für ein paar Stunden den steifen Mantel des Durchorganisiertseins abstrei- fen und gegen ein buntes Kleid der Jugend eintauschen.

Bei aller Vielfalt eines Pro- gramms, das rund tausend verschie- dene Veranstaltungen anbietet, kristallisierten sich in Berlin drei

große Schwerpunkte heraus. Alle Foren und Diskussionen, in denen es um den Sinn des Lebens, die Frage nach dem Leid, New Age oder Spiritismus ging, waren hoffnungs- los überfüllt - vor allem durch jun- ge Besucher. Der Hunger nach dem nicht mehr Berechenbaren, nach dem sich jeder Fortschrittsmach- barkeit entziehenden Sein scheint vor allem bei jungen Menschen groß zu sein. Diese Sehnsucht nach den anspruchsvollen Themen des Lebens muß Verantwortliche in der Kirche sehr nachdenklich stimmen, wenn man bedenkt, daß nach neu- eren Untersuchungen der Demos- kopen die Christen in Deutschland große Schwierigkeiten haben, etwa an die Auferstehung und das ewige Leben zu glauben.

Das Motto „Wie im Himmel so auf Erden!" sollte die Christen wie- der an den Maßstab für irdisches Handeln erinnern. Der Kölner Kar- dinal Joachim Meisner, der noch als Berliner Bischof zum Katholi- kentag an die Spree eingeladen hatte, nannte am Schluß der Haupt- kundgebung vor dem Reichstags- gebäude den aktuellen Bezug: Die Vaterunserbitte besage nicht, „wie im Westen so im Osten" oder umge- kehrt, sondern gebe jedem Men- schen einen göttlichen Maßstab für sein Handeln - und Teilen - mit: „Wie Gott mir, so ich Dir".

Einen zweiten Schwerpunkt bil- dete die Herausforderung, die das gemeinsame Haus Europa für die Christen bedeutet. Zu den zusätz- lich ins Programm genommenen Parallelveranstaltungen zählte ein hochkarätiger Europakongreß mit Bundeskanzler Helmut Kohl, Bun- destagspräsidentin Rita Süssmuth, Josef Antall aus Ungarn, Kardinal Lustiger aus Paris, Kazimiera Prunskiene aus Litauen, Jan Car- nogursky aus der Tschechoslowa- kei, Ruud Lubbers aus den Nieder- landen, Jacques Santer aus Luxem- burg und Vaclav Maly aus Prag. Alle zusammen lieferten eine kon- zentrierte Wortmeldung für Euro- pa und das Signal: Wir Christen wollen die Hausordnung mitbestim- men, also mehr als nur einen christ- lichen Außenanstrich für die ge-

meinsame Wohnung liefern.

Daß die Verankerung von Grund- werten in einer europäischen Le- bensordnung gar nicht einfach sein wird, machte ein dritter Schwer- punkt deutlich. Mit Informationen, Foren, Erfahrungsberichten und Gebeten setzten sich Katholikin- nen vom Sozialdienst Katholischer Frauen für den Schutz der ungebo- renen Kinder ein. Bereits am ersten Tag des Katholikentages zog die Halle unter dem Funkturm rund 200 sogenannte autonome Frauen- gruppen an, die - jede vernünftige Argumentation fürchtend und vor Gesprächsangeboten fliehend - ihren Unmut gewaltsam zum Aus- druck brachten: Es flogen Farb- beutel, Stände wurden leergeräumt, ein Hauptstromkabel wurde ge- kappt, und schließlich wurden Stinkbomben geworfen. In lauten Pfeif- und Schreiaktionen hieß es: „Ob Kinder oder keine, entschei- den wir alleine".

Dieses Zeugnis der Intoleranz gegenüber Andersdenkenden wie- derholte sich in einem nächtlichen ökumenischen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kir- che am Kurfürstendamm. Auch hier zwangen Stinkbomben mit ihrer ätzenden Buttersäure zahlreiche Besucher zum Verlassen der Ge- betsstunde, die vielleicht nur des- halb gerettet werden konnte, weil die Eindringlinge mit dem spontan gesungenen Taize-Halleluja in ih- rer Aggression gestoppt wurden.

Der Hintergrund für solche Ak- tionen: Während in der Bundesre- publik Deutschland Abtreibung grundsätzlich unter Strafe steht und nur in bestimmten Fällen straffrei bleibt, gibt es in der DDR die „Fri- stenlösung", also die straffreie Tötung Ungeborener in den ersten Monaten. An der Art und Weise, wie der Schutz der Ungeborenen gehandhabt wird, wird sich aber über Deutschland hinaus die Qua- lität der europäischen Friedensord- nung messen lassen müssen.

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