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Woher kam diese Jugend?

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Woher kommt diese Jugend? Diese Frage stellten sich Veranstalter und Berichterstatter in Berlin, wo auf dem Messegelände am Funkturm mehr als

60.000 Menschen unter dem Kirchentagsmotto „Einer trage des anderen Last“ zusammengeströmt waren. Diese Menschen waren zum überwiegenden Teil Jugendliche zwischen 17 und 25. Eine auffallend fröhlich-engagierte Blue-jeans-Jugend, wohlerzogen und ungęzwungen zugleich, aus allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins. Wie es der Präsident des Kirchentages, Helmut Simon, ausdrückte: „Wir erleben in Berlin das Gegenteil der Haltung, die sich sonst so breit macht, der resignierenden und privatisierenden

Ohne-mich-Haltung.“

Das auf dem letzten Kirchentag in Frankfurt gewagte Experiment ist geglückt und in Berlin selbstverständlich geworden: Während Anfang der siebziger Jahre noch die Rede davon war, ein Kirchentag müsse auch sterben können, brachte seine Umstellung von der repräsentierenden Großveranstaltung auf den repräsentativen „Markt der Möglichkeiten“ neues Leben hervor. „Der Kirchentag ist ein offenes Angebot. Er ist ein Zeichen dafür, daß Kirche lebendig bleibt.“ So hatte man in der Einladung vor mehr als einem Jahr bereits formuliert - mit dem Risiko, daß das große Echo ausbleibt. Es ist nicht ausgeblieben.

Die sich angemeldet haben, waren nicht nur Besucher oder Teilnehmer; mehr als 5000 Leute - wieder zum weitaus größten Teil Jugendliche - haben die Einladung als Beteiligte und Mitwirkende angenommen: In über 300 Gruppen haben sie den Kirchentag von langer Hand vorbereitet und sind dann als „Aussteller “ auf diese Messe gekommen, um in originell eingerichteten Kojen und Ständen eben diesen „Markt der Möglichkeiten“ auszubreiten. Man mag sich stoßen an dieser wörtlich ausgesprochenen „Vermarktung“ des Evangeliums, wird aber nicht um die Tatsache herumkommen, daß ein Christentum, das Menschen in ihrer Freiheit ansprechen und in die Verantwortung rufen will, sich auf dem Markt der Welt behaupten muß, ja dorthin auch seine Haut zu tragen hat!

Um die Überfülle der Angebote, die von den engagierten Gruppen kamen, einigermaßen überschaubar zu machen, hatte man diesen Messe-Teil des Kirchentages in vier „Marktbereiche“ gegliedert. Der erste unter dem Titel „Glaubensgemeinschaften - Gemeinschaft des Glaubens“ stellte Initiativen und Modelle auf den Gebieten der Weltmission, des Gottesdienstes, der Kinder- und Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung vor. Prospekte, Film- und Diavorführungen, Gespräche im kleinen Kreis in den Kojen sorgten für Kontakt mit dem „Publikum“. Marktbereich II mit dem Motto „Der anderen Last: Junge, Alte, Fremde“ gab einen imponierenden Einblick in schlicht-karitative Arbeit vor allem jugendlicher Gruppen mit durchaus gesellschaftspolitischer Konsequenz: ob es um das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ging oder um die Obdachlosen, um Gastarbeiterkinder oder um die Frage des Strafvollzuges und der Resozialisierung ehemaliger Häftlinge, für die mit der Losungsvariante „Keiner ertrage des anderen Knast“ um Verständnis geworben wurde.

Besonderen Andrang an Gruppen - über 100 - und Besuchern konnte der Marktbereich verzeichnen, der mit dem Titel „Umkehr in die Zukunft“ eine Bekehrung forderte, in der die geistliche von der säkularen Dimension nicht zu trennen ist: wo es um Friedens- und Versöhnungsdienst, um Menschenrechte und Entwicklungspolitik, um Umweltschutz und „neuen Lebensstil“ geht, hat sich eben doch bereits die vielfältige „Last der Sünde“ ausgewirkt, an der alle zu tragen und abzutragen haben. Die Angst des Superintendenten war darum nicht so gerechtfertigt, der beim Eröffnungsgottesdienst des Kirchentages in einer vollbesetzten katholischen Kirche den Kirchentag in Gefahr sah und der Gemeinde zurief, daß es bei der Losung „Einer trage des anderen Last“ nicht um „die kleinen Wehwehchen der. Welt“ gehe, wie sie auf dem Markt der Möglichkeiten dargestellt würden, sondern um „die Last der Sünde“. - „In der Liebe ist Hoffnung: Gesunde und Kranke“ war schließlich der vierte Marktbereich überschrieben und konfrontierte mit dem Problem der Behinderten, der Süchtigen, des oft unmenschlichen Krankenhausbetriebes, der Seelsorge.

Vieles wäre noch zu berichten, von den Bibelarbeiten, den Abendmahl- feiem, den Arbeitskreisen und großen Vorträgen, vom Medienzentrum, in dem neben einem Publikumsgespräch mit geistlichen Radio- und Fernsehsprechern das kleine österreichische Wunder der „ökumenischen Morgenfeier“ im ORF vorgestellt und eine Sendung mit Hörerbeteiligung produziert wurde. Was aber, unbedingt noch gesagt werden muß: bei allem Interesse und Engagement auf dem Markt der Möglichkeiten und bei diversen Einzelveranstaltungen, was diese Jugend wirklich und wirksam zusammenführte, das waren die Gottesdienste des Abends, die Liturgischen Nächte wie der „Gottesdienst der Lastenträger“ am Donnerstag.

Eine Jugend, die Engagement mit Gesprächsbereitschaft, politischen Einsatz für die Armen mit Meditation und gottesdienstlichen Feiern zu verbinden weiß, sollte eigentlich Hoffnung nähren - über die Grenzen der Konfessionen hinaus.

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