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Ein neuer Anfang

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Bei unverändert hochsommerlichen Temperaturen ging in Düsseldorf der 15. Deutsche Evangelische Kirchentag zu Ende. In der fast 25jährigen Geschichte der Kirchentage ist damit ein neuer Anfang gesetzt worden.

Das wurde zunächst am Stil deutlich. Wer nach Düsseldorf kam, um nur sich selbst zu bestätigen, wurde enttäuscht. Es wurde mehr gefragt als geantwortet. Damit war das Debakel von Stuttgart vor vier Jahren vermieden, wo viele Gruppen ohne vorherige Absprache miteinander auftraten und lediglich ihre oft sehr einseitigen Antworten loswerden wollten. Die Leitung des Kirchentags hatte daraus gelernt. Diesmal mußten sich oft sehr unterschiedliche Arbeitsgruppen vorher miteinander abstimmen. Das kam den sechs Hauptthemen, die von der Glaubensfrage über den Einzelnen, den Gottesdienst, die Ökumene hin zu Mission und Entwicklung reichten, sichtbar zugute. Es gab Kampfabstimmungen, es gab auch harte Konfrontationen — Krakeeler muß-

ten sich aber an die recht kurze Leine des Diskussionsleiters nehmen lassen.

Die eigentliche Überraschung dieses Treffens war der unverändert starke Zustrom zur Gruppe 1, wo die Fundamente des Glaubens angefragt wurden. Am letzten Arbeitstag waren es 4500 Menschen — ebenso viele, wie in allen anderen Gruppen zusammengenommen. Lebensqualität, diesa zum politischen Reizwort gewordene Umschreibung besserer und gehaltvollerer Sinnerfüllung, wurde von Heinz Zähmte, Präsident des Kirchentags und einer seiner gewichtigsten Redner, als Selbstannahme, Annahme des anderen und damit auch der Welt definiert. Der Redner ließ, wie auch alle anderen Referenten in diesem Kreis, keinen Zweifel daran, daß solche Annahme nur sinnvoll sein kann, wenn man sich selbst schon angenommen weiß. Nicht auf dem Umweg über die Mitmenschen erfahre ich meine Menschlichkeit, sondern sie ist mir im Glauben an den Mensch gewordenen Gott vorgegeben und nun zur

Realisierung in meiner Umwelt als Aufgabe gestellt.

Frühere Kirchentage betonten stark das Gemeinschaftserlebnis als Folge von Glaubensentscheidungen. Man war Gemeinde hoch drei, eine Super-Ortsgemeinde mit Singen, Posaunenblasen und Volksmission in der gastgebenden Stadt. Auch in Düsseldorf wurde Gemeinschaft großgeschrieben, sie trat aber als gegliederte, engagierte Gruppe in Erscheinung. Die Spezialisierung trat an die Stelle gefühlsmäßiger Massengemeinschaft.

Die anfangs verwirrende Vielfalt unterlag aber nicht — und das ist eine weitere Überraschung von Düsseldorf — dem Gesetz der Fliehkraft. Der ältere Beobachter dieser Szene kam zu der Erkenntnis, daß junge Menschen untereinander Solidarität und Achtung verbindet, die sich auch dann bewährt, wenn Interessen und Aktivitäten völlig verschieden sind.

Am zweiten Tag dieses oft heiteren, gelösten und nach außen wenig fromm im herkömmlichen Sinn sich darbietenden Treffens wurden zwei Kinder, ein und drei Jahre alt, inmitten applaudierender und musizierender Gäste getauft. Ort der Handlung: eine der nüchternen Ausstellungshallen, in denen zu anderen Zeiten Möbel, Autos oder Menschen angeboten werden. Der Hausmeister einer Düsseldorfer Schule, in welcher spasmisch gelähmte Jugendliche mit ihren ebenfalls jugendlichen Betreuern untergebracht waren, tat es jenem Kerkermeister in Philippi gleich, von dem die Apostelgeschichte berichtet. Er sah die innere Freiheit dieser Gebundenen, die Freiheit zum Dienst bei ihren Helfern — und glaubte mit seiner Frau, brachte seine beiden Kinder und ließ sie von einem zufällig anwesenden Studentenpfarrer auf den Namen des dreieinigen Gottes taufen. Dies allein hätte die Reise gelohnt und dem Kirchentag seine Qualifikation gegeben. Während nur eine Halle weiter die Kindertaufe karikiert wurde — auf einem großen Plakat bearbeitet ein Pfarrer mit dem Gartenschlauch schreiende Säuglinge — war sie hier das Signal einer Glaubensentscheidung! Es kamen natürlich auch jene reichlich zu Wort, die das Evangelium nicht als Motor politischen Handelns verstehen, sondern mit ihm die politische Praxis zu beherrschen meinen.

Das „Kapital“ wurde wiederum und ohne Nachprüfung für die meisten Übel dieser Welt verantwortlich gemacht.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das war das, Thema dieses Kirchentages. Daß er aber auch nicht nur etwa aus seinen zündenden Ideen, aus seiner Hoffnung auf eine Umwertung aller Werte oder etwa aus der Bewahrung des Überkommenen leben und überleben kann, wurde gleichfalls deutlich. Selbstbescheidung wurde in einem der vielen Flugblätter gefordert. Dienst an denen, die wegen ihrer Behinderung im wirtschaftlichen Wettlauf schon kurz nach dem Start ausscheiden müssen — so verlangten unter gewaltigem Und unerwarteten Zulauf die Werbestände der diakonischen Werke. Gemeinschaft mit Katholiken und Juden — auch hier war das Echo groß.

Selbstbescheidung, Dienst, Gemeinschaft. Drei positive Aussagen statt der negativen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebe. Sie sind die anschauliche Interpretation dessen, was der biblische Text in Fortsetzung dieses Themas von Düsseldorf sagt: „Sondern von allem, was aus Gottes Mund geht.“

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