Die Quadratur des Knödels

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Zum Dossier. Niederösterreich ist ein Land der Gegensätze: In den Grenzregionen die höchste Abwanderungsrate und die höchste Arbeitslosenrate Österreichs. Im Landesinneren das genaue Gegenteil: Wachsende Städte, wie das kulturell florierende St. Pölten, Unternehmensgründungen und Innovationszentren, sowie eine vielleicht bald prosperierende Universität in Krems.

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Zum Dossier. Niederösterreich ist ein Land der Gegensätze: In den Grenzregionen die höchste Abwanderungsrate und die höchste Arbeitslosenrate Österreichs. Im Landesinneren das genaue Gegenteil: Wachsende Städte, wie das kulturell florierende St. Pölten, Unternehmensgründungen und Innovationszentren, sowie eine vielleicht bald prosperierende Universität in Krems.

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Gelb und blau flattert die Fahne über Niederösterreich. Starrt man lange genug nur auf eine der Farben und schließt dann die Augen, projiziert das innere Auge jeweils die andere. Die Farben nehmen es vorweg: Niederösterreich ist ein Land der Gegensätze. In den Grenzregionen die höchste Abwanderungsrate Österreichs, die höchste Arbeitslosenrate, verfallende Höfe, verödete Dörfer. Im Landesinneren Industriezentren, wachsende Städte, geputzte Fassaden. Komplementärfarben auf allen Ebenen. Der Versuch, Niederösterreich zu definieren und mit einem zündenden Markenbegriff zu versehen, stößt da schnell an Grenzen.

Tirol hat's gut. Berge, Dirndl, Speck. Oder Salzburg: Mozart, Festspiele, Schnürlregen. So einfach könnte es sein. Niederösterreich? Technologieland, jubelt das Wiener Umland. Schön wär's, seufzt das Waldviertel. Barocke Kultur, prunkt Stift Melk; römisches Erbe, beharrt Carnuntum; mystische Natur, träumt die Blockheide. Gemüseparadies, protzt das Marchfeld; schwerer Boden, ächzt das Mostviertel. Jung, dynamisch, urban versucht sich St. Pölten zu geben, die künstliche Hauptstadt im geographischen Zentrum. Beschaulich, ruhig, naturverbunden die gewachsene Peripherie, aus der das Land im Kern besteht. Kein Etikett funktioniert, das aufs ganze Land zwischen Enns und March, Rax und Thaya geklebt werden könnte. Die Annäherung über Klischees führt nicht weiter, es sind zu viele.

Der Versuch über die Historie führt, einer Schenkungsurkunde Ottos III. folgend, nach Neuhofen an der Ybbs. Sie verspricht im Jahre 996 Bischof Gottschalk von Freising 30 Königshufen in dieser "Gegend, die Ostarrichi genannt wird" - demnach ist hier, im Babenbergerland, wo die erste Erwähnung des Namens fällt, das eigentliche Österreich zu suchen. Wie aber zeigt sich das Eigentliche - unter wechselnden Herrschaften, mit ständig korrigierten Grenzen, schließlich am Reißbrett zur politischen Zählgröße Bundesland erklärt.

Niederösterreicher zu Wort kommen zu lassen, erübrigt sich. Niederösterreich hat keine Einwohner. Weinviertler leben hier, Waldviertler, Kremser oder Mödlinger. Niederösterreicher sind nur die Politiker, und auch die nur in St. Pölten oder Wien. Zu Hause, bei der Ansprache zum Feuerwehrfest oder bei der Eröffnung des neuen Kreisverkehrs werden sie sich vor der vielsilbigen Bezeichnung hüten, da sind sie Weinviertler, Waldviertler, Kremser oder Mödlinger. Verbundenheit mit Grund und Boden. Selbst der Landeshauptmann bemüht sich, bei der Truppenparade in Zwettl einfließen zu lassen, daß er eigentlich, im Grunde seines Herzens, geistig zumindest, hierher gehört.

Vergebens auch der klassische Versuch, das Land in weiblicher Metapher zu beschreiben. Zwar begegnet uns allhier in Niederösterreich das älteste Abbild des Weiblichen schlechthin, nur: welche Venus darf's sein? Die älteste vom Galgenberg, kraftvoll und aktiv, selbstbewußt aufgerichtet und nach vorne blickend? Die bekannteste von Willendorf, mütterlich, rund und introvertiert? Oder doch die jüngste der drei, die beides verbindet, mit starken Hüften und schlanker Taille, in sich ruhend und doch nach außen gewandt.

Im Zweifel wissen's die Künstler, Dichter und Denker. Wie Ferdinand Raimund, Arnold Schönberg und Ludwig Wittgenstein schätzen und schätzten sie das ländliche Niederösterreich als Refugium, Inspirationsquelle und Erholungsquelle. Franz Grillparzer, kaum auf Schloß Greillenstein nahe Stift Altenburg angekommen, berichtet seiner Mutter in einem Brief begeistert: "Ich bin sehr vergnügt, denn die Gegend hier herum ist herrlich, und ich habe alles, was ich nur wünschen kann". Herrlich und vergnügt - Niederösterreich also eine Empfindung, ein Gemütszustand vielleicht.

Ein letzter Versuch, ein kulinarischer. Rund und saftig, nahrhaft und schmackhaft rollt der Knödel durch Niederösterreich. Als Waldviertler Erdäpfelknödel, als Marillenknödel in der Wachau, als Gumpoldskirchner Speckknödel und als Ybbstaler Grießknödel - auch wieder Gegensätze. Pikant und süß, Beilage und Hauptspeise, immer ein Konglomerat, vor allem aber: rund. Der Knödel schließlich führt zur Einsicht, daß es unmöglich ist, die Ambivalenz des Landes aufzulösen - macht sie doch das Wesen Niederösterreichs aus. Zufluchtsstätte und Erholungsgebiet, Produktionsort und Handelszentrum. Drehscheibe zwischen Nord und Süd, Bindeglied zu den östlichen Ländern und Kulturen, gleichzeitig Schauplatz von Kriegen und Verteidigungsbastion.

In diesem Lichte ist es vielleicht kein Zufall, daß der philosophierende Kaiser Marc Aurel sich just in seinem heute in Niederösterreich liegenden Hauptquartier Gedanken machte über die Zerrissenheit der menschlichen Existenz. Hier schrieb er, um 175 n. Chr., den zweiten Teil seiner "Confessiones": "Die Dauer des menschlichen Lebens ist ein Augenblick, das Wesen ein beständiger Strom, die Empfindung eine dunkle Erscheinung, der Leib eine verwesliche Masse, die Seele ein Kreisel, das Schicksal ein Rätsel, der Ruf etwas Unentschiedenes. Kurz, was den Körper betrifft, ist ein schneller Fluß, was die Seele angeht, Träume und Dunst, das Leben ist ... eine Haltestelle für Reisende ...".

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