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Neue Wege der Standortpolitik

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In jüngster Zeit wird Immer mehr erkannt, daß trotz der Hochkonjunktur in Mitteleuropa neben Raumeinheiten bedeutendster Produktionsintensität bestimmte Gebiete vorhanden sind, die sich wirtschaftlich passiv verhalten und im Vergleich zum durchschnittlichen Lebensstandard benachteiligt sind1. Bisher wurde diesem Phänomen von den zuständigen Wirtschaftsstellen nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Nun sieht man aber allmählich ein, daß wir es hier mit keiner nebensächlichen Erscheinung der Gesamtentwicklung, sondern mit einem augenblicklich primären Problem zu tun haben. Leider sind die unterentwickelten Raumeinheiten schlecht abzugrenzen, da sie Gebiete gleicher wirtschaftsräumlicher Struktur und Funktion darstellen, die mit den starren administrativen Einteilungen nicht übereinstimmen.

Während die Gebiete mit größter Wirtschaftsintensität durch Agglomerationen von Menschen und industriell-gewerblichen Betrieben gekennzeichnet sind, haben die stagnierenden Räume Arbeitslosigkeit der Erwerbspersonen und teilweise Abwanderung der arbeitswilligen Schichten zu verzeichnen. Bereits durch das Studium der Bevölkerungsentwicklung ist das Nebeneinander dieser entgegengesetzten Wirtschaftsräume zu erkennen: Bereichen mit sprunghaftem Bevölkerungswachstum stehen solche Landschaftsteile gegenüber, in denen die Zahl der Bevölkerung kleiner wird.

Wir erleben also die groteske Situation, daft zu’ einer Zeit der Hochkonjunktur an bestimmten Orten Mangel an Arbeitskräften herrscht, in anderen Gegenden hingegen eine relativ hohe Arbeitslosenziffer aufscheint. Ein Ausgleich dieser unterschiedlichen Verhältnisse kann deshalb nur durch strengste Beachtung der räumlichen Gegebenheiten erfolgen. Es besteht bereits ein Trend, Filialen bedeutender Produktionsstätten in unterentwickelte Gebiete mit Bevölkerungsabwanderung zu verlagern — in der Schweiz zum Beispiel in die Alpentäler —, um die überschüssigen Arbeitskräfte aufzunehmen

Der wirtschaftliche Wettbewerb beginnt bereits einen räumlichen Ausgleich anzubahnen. Günstige Lagebedingungen für die Industrie sind heute nicht mehr allein durch die notwendigen Rohstoffe und eine ausreichende Energieversorgung sowie den entsprechenden Absatz der produzierten Güter gegeben, sondern vor allem auch durch Vorhandensein genügender Arbeitskräfte. Die Industriestandorte werden derzeit weniger durch die physisch-geographische Lage als durch die Kräfte des sozialen Raumes bestimmt.

Der moderne Staat strebt an, den Lebensstandard aller Bevölkerungskreise zu heben, ohne Rücksicht auf die räumliche Verteilung der Gesellschaftsgruppen. Eine wirtschaftliche Gleichstellung der unterentwickelten Gebiete vorwiegend kleinbäuerlicher Sozialstruktur kann aber nur durch eine aktive Standortbeeinflussung der industriell-gewerblichen Betriebe im Zuge der üblichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen erfolgen. Es wäre hierbei ein wünschenswerte Ziel, durch ‘ eine weiträumige Streuung der Industriebetriebe die vor ich gehende tarke Ballung einzudämmen und auf diese Weise die gesamte Bevölkerung an der Hebung des Lebensstandards gleichmäßig teilnehmen zu lassen. Die augenblicklich noch rein agrarischen Gebiete werden in naher Zukunft einer langsamen Ueberschichtung durch industriell-städtische Bevölkerungsgruppen kaum entgehen können. Dieser Verstädterungsvorgang wird den Raumeinheiten mit überwiegend kleinbäuerlicher Agrarstruktur nur zum Vorteil gereichen: Durch die Beschäftigung der Arbeiterbauern und Nebenerwerbslandwirte in nahegelegenen Industriebetrieben wird das überschüssige Arbeitspotential abgeschöpft und die allgemeine Lebenslage dieser Sozialschichten gehoben.

Dem Hinweis, daß durch die Industrieverlagerungen nach den unterentwickelten Produktionsräumen ein Wandel des bestehenden sozialen Gefüges hervorgerufen wird, kann entgegengehalten werden, daß heute auch abseits von Industriestandorten nur durch rationelle Produktionsmethoden und entsprechende soziale Bedingungen die Landflucht aufzuhalten ist.

Ein neues Moment ist jüngst bei der Standortpolitik dadurch eingetreten, daß die wirtschaftlich und sozial benachteiligten Räume die Wachstumsdifferenz durch eigene Initiative aus- gleichen wollen, indem sie sich der modernen, wissenschaftlich fundierten Werbetechnik bedienen. Wie bei der Fremdenverkehrswerbung bieten die stagnierenden Wirtschaftsräume ihre Vorzüge für Ansiedlungen industriell-gewerblicher Betriebe an. Nicht nur auf die selbstverständlichen Voraussetzungen einer industriellen Produktion — Verkehrsverbindungen, Energieversorgung, ausreichende Wasservorräte und Möglichkeiten einer Abwässerbeseitigung — wird hingewiesen, sondern auch das Vorhandensein überschüssiger, jederzeit in den Erzeugungsprozeß einzugliedernder Arbeitskräfte wird besonders betont. Außerdem weist man auf die bestehenden zentralen Einrichtungen und die kulturellen Institutionen hin. Es werden also lauter Faktoren angeführt, die bei der Standortwahl eines Betriebes für den aufgeschlossenen und wirtschaftlich denkenden Unternehmer ausschlaggebend sein könnten.

In Oesterreich ist mit einer derartigen werbenden Standortbeeinflussung durch die Stadtgemeinde Wiener Neustadt begonnen worden’, worüber die „Furche” in ihrer Nummer 42 vom 13. Oktober 1956 ausführlich berichten konnte. An alle einschlägigen Wirtschaftskreise wurde eine bunte und reichgestaltete Broschüre versandt, die über die strukturellen und funktionellen Verhältnisse des Wiener-Neustädter Wirtschaftsraumes genaue tens Auskunft gibt. Hervorgehoben wird in erster Linie das hochinteressante Ergebnis einer von der Arbeits- gemeiruchaft für Raumfortchung und Planung durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchung: derzeit ttehen in Wiener Neustadt und Umgebung rund 750 Männer und 550 Frauen als unmittelbar einsatzfähige Dauerarbeitskräfte zur Verfügung, in den nächsten drei bis fünf Jahren wird ich diese Zahl um etwa 1700 männliche und 500 weibliche Arbeitskräfte erhöhen. Sicherlich übt diese auf dem Arbeitsmarkt derzeit einzig dastehende Situation die gewünschte Werbewirkung auf die risikofreudigen Unternehmer aus.

In ähnlicher Weise schickte kürzlich in der Deutschen Bundesrepublik der Landrat von Tauberbischofsheim farbige Prospekte seines Kreises aus. Neben dem Entwurf eines agrarsozialen Bildes — es überwiegen die Arbeiterbauern — werden darin alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einrichtungen des Kreises beschrieben: Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Musik- und Theaterpflege.

Es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, daß die in der Entwicklung nachhinkenden Produktionsräume nicht unbedingt auf fremde Hilfe warten und dadurch den Anschluß an die sprunghaft fortschreitende Wirtschaftsentwicklung vollkommen versäumen, sondern von selbst die Initiative ergreifen und in einen räumlichen Wettbewerb um Industrieansiedlungen treten. Hoffentlich wird von dieser werbenden Standortbeeinflussung in Oesterreich lebhaft Gebrauch gemacht. Nur durch neue Arbeitsstätten werden nämlich die räumlichen Unterschiede des Lebensstandards beseitigt werden und alle Gesellschaftsschichten gleichmäßig an der wirtschaftlichen und sozialen Aufwärtsentwicklung teilnehmen können.

1 Stöhf, W.: „Vollbeschäftigung — ein regionales Problem.” In: Arbeit und Wirtschaft, 11/1957, S 44 ff.

2 „Neues Leben in toten Winkeln.” In: Bayer. Staatszeitung und Bayer. Staatsanzeiger, 1956, Nummer 1, S. io.

3 „Wiener Neustadt ladet ein “ Herausgegeben von der Stadtgemeinde Wiener Neustadt und der Handelskammer Niederösterreich. Wiener Neustadt 1956.

4 Mayer, K. J.: „Ein Landrat verschickt Prospekte.” In: Handelsblatt 11/1956, Nr. 124, S. 3.

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