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Platz für Schlote

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Wer heute auf der neuen Umfahrungsstraße den Ostrand von Wiener Neustadt berührt, staunt über den gründlichen Wandel, den diese Stadt im letzten Jahrzehnt genommen hat. Längst redet man nicht von Krieg und Bomben, die diese Stadt wie keine in Oesterreich getroffen haben. Man bittet nicht mehr um Hilfe und Mitleid, man präsentiert heute Aufbau und Planung, man wirbt mit nüchternen Tatsachen, Zahlen und Berechnungen für den weiteren Ausbau.

In dieser Richtung stellt eine brillant ausgestattete moderne Broschüre („Wiener Neustadt ladet ein“, herausgegeben von der Stadtgemeinde Wiener Neustadt und der Handelskammer von Niederösterreich, Gestaltung und Redaktien Karl E. Jezek) einen vorläufigen Höhepunkt an zeitgemäßer und überzeugender Werbung dar.

Wofür wirbt eine solche Stadt heute: in der „Plafondphase“ der Prosperity, in der Epoche des Arbeitermangels, der Wohnraumnot, des Geländemangels?

Hier setzt die erste Ueberraschung ein: Wiener Neustadt ist in jeder Hinsicht unaus-genützt. aufnahmefähig.

Es hat im Norden der Stadt mit Gas, Wasser und Kanalisation ein Industriegelände von 3 50.000 Quadratmeter völlig, ein weiteres teilweise aufgeschlossen. Aber, obwohl schon Schlote darin rauchen, stehen ijtimer noch ein großer, zusammenhängender Komplex von 135.000 Quadratmeter und Restflächen von 5000 bis 30.000 Quadratmeter frei! Auch wohlfeile Gründe für Wohnsicdlungen stehen in unmittelbarer Nähe zur Verfügung und warten auf Bebauung.

Noch ungewöhnlicher ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt.

Wiener Neustadt beschäftigte im Oktober 1955 bei einer Einwohnerzahl von 33.473 in 1395 Betrieben 9245 Angestellte, Arbeiter, Lehrlinge usw. Beim Arbeitsamt waren zuletzt 2815 männliche und 1370 weibliche Arbeitsuchende vorgemerkt. Davon waren 237 Männer und 46 Frauen aus der Metallbranche, 185 Männer und 17 Frauen aus holzverarbeitenden Berufen, 40 Männer und 455 Frauen aus der Textilbranche und der Rest von 13 36 Männern und 4 Frauen aus dem Baugewerbe. Im einzelnen sind beim Arbeitsamt (Stand August 1956) 42 Schlosser, 14 Dreher, 12 Elektriker, 19 Spengler und außerdem Former, Kernmacher, Fräser,

Werkzeugmacher und eine große Zahl von bereit

praktisch tätig gewesenen Metallhilfsarbeitern, 43 Sägearbeitern, 5 8 Tischlern, 276 Spulerinnen und Spinnerinnen, 85 Weberinnen, 67 männliche und 111 weibliche kaufmännische Angestellte und 11 Techniker vorgemerkt. Dazu kommt noch, daß die umfangreiche Zerstörung im Industriesektor viele Arbeitskräfte aus Wiener Neustadt, deren Qualität ein unumstrittener Begriff ist, gezwungen hat, auswärtige Arbeitsplätze zu suchen, Ein Teil ist in die Industriezentren Steiermarks und Oberösterreichs (Ste#r) abgewandert, besitzt aber noch soviel Bindung (Haus, Garten, Grundstück, Familie) in der Heimatstadt, daß bei einer entsprechenden Arbeitsmarktlage eine Rückkehr wahrscheinlich erscheint, der andere Teil, und hier handelt es sich wieder um Fachkräfte aus der Metallbranche, arbeitet in der Umgebung, zum Teil sogar in Wien, und muß weite Anmarschwege zur Betriebsstätte in Kauf nehmen. Wenn man die Liste der niederösterreichichen Orte durchsieht, in denen Wiener-Neustädter arbeiten, erkennt man deutlich, daß vorwiegend solche Orte aufscheinen, in denen Betriebe der Metallindustrie, aber auch Betriebe der Textilindustrie seßhaft sind. Zweifellos würden auch viele dieser Arbeiter die auswärtigen Arbeitsplätze zugunsten solcher aufgeben, die im lokalen Bereich greifbar sind und ungefähr die gleichen Bedingungen bieten.

Damit ist die große Chance sichtbar, die neue Betriebe, besonders der Metall- und Textil-branche — im Gegensatz zu anderen Gegenden Oesterreichs — in Wiener Neustadt vorfinden.

Eine von der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Planung soeben abgeschlossene wissenschaftliche Untersuchung des Arbeitsmarktes im Raum von Wiener Neustadt hat ergeben, daß nach Abzug der Saisonarbeitslosen derzeit etwa 750 Männer und 5 50 Frauen als unmittelbar einsatzfähige Dauerarbeitskräfte zur Verfügung stehen. Diese Zahlen dürften sich in den nächsten drei bis fünf Jahren um etwa 1700 männliche und 500 weibliche Arbeitskräfte erhöhen. Ein neuer Betrieb hätte also auch für eine Ausweitung in den kommenden Jahren ein großes Arbeitskraftreservoir zur Verfügung. Diese Situation ist wohl einzigartig unter den Situationen anderer österreichischer Industriegebiete, die alle unter einem Mangel an Arbeitskräften leiden.

Bekannt ist die günstige Lage der Stadt für industrielle Unternehmungen: die Nähe zu Wien (46 Straßen-, 49 Bahttkilo.meter) und seinen zentralen Einrichtungen, das wind- und nebelarme Klima, die Verknotung zahlreicher Bahnlinien in alle Windrichtungen mit einem großen zentralen Frachtenbahnhof und einem kleineren Verladebahnhof (in unmittelbarer Nähe des erwähnten Industriegeländes), die Lage an der heutigen Nord-Süd-Straße Wien—Graz und der mergigen Südtrasse der Autobahn, die Nähe zu Kohlengebietcn, Stromquellen, zum Wirtschaftsgebiet des Ostens, u. v. a.

Einer zukünftigen unausbleiblichen Entwicklung des Luftfrachtenverkehrs trägt der besonders günstige Umstand Rechnung, daß das Industriegelände nicht nur zwischen wichtigen Bahn- und Straßenverbindungen liegt, sondern auch i“ nächster Nachbarschaft zwei Flugplätze angeschlossen hat. Der eine davon ist flächenmäßig der größte Flugplatz Europas und besitzt Ausbaumöglichkeiten, die selbst für heute noch nicht spruchreife Anforderungen genügen. Es ist keine Llebertrei-bung,, daß Industrien, die auf dem Wiener-Neustädter Industriegelände stehen, den Flugplatz buchstäblich vor den Toren liegen haben werden. Eine friedliche Entwicklung vorausgesetzt, wird der Luftfrachtenverkehr auf Wiener Neustadt als Umschlaghafen nicht verzichten können, weil sonst nirgends bessere Bedingungen zu finden wären.

Es hat daher auch nicht weiter überrascht, als vor wenigen Tagen folgende Notiz durch die Presse ging:

Eine Wiener-Neustädter Flugzeugwerft AG. ist derzeit in Gründung, deren Aktien zu 51 Prozent im Besitz österreichischer Privatunternehmer sein werden, wäheepd eines der größten britischen Flugzeugwerke und eine schweizerische Finanzje-rungsgesellschaft die restlichen Anteile übernehmen werden. Das britische Flugzeugwerk wird auch technische Einrichtungen sowie Faeh-Einschulungs-persona] zur Verfügung stellen. Der Betrieb wird am 1. Jänner 1957 aufgenommen.

Aber eine lebendige Stadt, auch die von morgen, lebt nicht von rauchenden Schornsteinen allein. Mit sichtlichem Stolz führt die Broschüre schließlich auch den hohen Stand der Stadt an kulturellen, sportlichen und Unterhaltungs-Einrichtungen, die Nähe zu den Bergen u. a an. Wiener Neustadt ist auch eine schöne Stadt, Mit großen Grünflächen und alten Häusern, deren fast SOOjährige stilvolle Schönheit der Bombenkrieg nicht auslöschen konnte, Möge sie weiterleben, allzeit getreu ihrer großen, geschichtlichen Vergangenheit und ihrer lebensvollen Zukunft.

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