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Das Wirtschaftsleben in der „Allzeit Getreuen“

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Will man die wirtschaftliche Bedeutung von Wiener Neustadt richtig beurteilen, so muß man ziemlich weit zurückgehen. Zum Unterschied von anderen Städten handelte es sich hier nicht um eine übliche Gründung eines zivilen Gemeinwesens, sondern zunächst um eine Festung gegen die andrängenden Völker des Ostens; aber auch diese starke Festung zog bald Handwerker und Kaufleute an, und bald wurden auch Märkte abgehalten. Einen Höhepunkt der Geschichte und damit auch der Wirtschaftsgeschichte der Stadt wurde im 15. Jahrhundert erreicht, als die Hofhaltung des deutschen Kaisers, Friedrich III., ein starkes Aufblühen von Wiener Neustadt zur Folge hatte. Damals wurde der Dom, die Burg, die Propstei sowie Klöster, Adels- und Bürgerhäuser errichtet, und das führte dazu, daß Handel und Gewerbe gut beschäftigt waren; wir können heute noch die hohen Leistungen der Steinmetze, der Holzschnitzer, der Goldschmiede und der Kunstmaler der damaligen Zeit bewundern.

Nach dem Tod des Kaisers Friedrich ging die Bedeutung der Stadt aber wieder stark zurück und es blieb als Rückhalt lange Zeit nur die Garnison. Erst im Laufe des 19. Jahrhundefts prägte die Wirtschaft der Stadt immer mehr den Stempel auf. Es kam zur Gründung von Textil-und Lebensmittelbetrieben, und mit dem Bau der Eisenbahn von Wien auf den Semmering begann vollends die große Zeit Wiener Neu-stadts. Eine große Lokomotivfabrik, eine Auto-fabrik und mehrere andere Fabriken wurden erbaut, schließlich wurde hier das erste Flugfeld Oesterreichs errichtet„ und... kurz vor .dem..rsten Weltkrieg entstand auch noch die erste Flugzeugfabrik Oesterreichs, so daß man Wiener Neutsadt mit Recht als die Wiege der österreichischen Luftfahrt bezeichnet.

Während des ersten Weltkrieges wurde Wiener Neustadt und seine ganze Umgebung zu dem Rüstungszentrum der österreichischungarischen Monarchie ausgestaltet, die Einwohnerschaft stieg sprunghaft von 35.000 -auf 70.000 Menschen an — und damit begann der Tragödie erster Akt: Der verlorene Krieg brachte mit einem Schlag den Verfall dieser großen Werke, und zehntausende Menschen wurden arbeitslos. Noch hatte sich das Wirtschaftsleben nicht erholt, kam die Krisenzeit der dreißiger Jahre. Die Lokomotivfabrik wurde stillgelegt, die Autofabrik wanderte ab und das ganze Gewerbeleben war durch diesen neuen Schlag in Mitleidenschaft gezogen. Das Jahr 1938 und der zweite Weltkrieg brachten einen riesigen Aufschwung für den ganzen Bezirk mit sich, neue große Werke wurden errichtet, zehntausende Arbeitskräfte wanderten zu — und wieder war alles eine bittere Scheinblüte. Die Rüstungsindustrie der Stadt und in ihrer Umgebung war der Anlaß zu zahlreichen Luftangriffen in den Jahren 1943 bis 1945; 20.000 Maschinen warfen 50.000 Bomben ab, mehr als 1000 Zivilisten fielen dabei, und von den 4000 Häusern der Stadt wurden 1000 total, weitere 1000 sehr schwer, je 400 mittel und leicht sowie 1400 geringfügig beschädigt, so daß 43 Prozent der Wohnungen unbenutzbar waren. Aber Wiener Neustadt sollte den Kelch des Leidens bis zur Neige auskosten: Die aus Osten herandrängenden russischen Truppen besetzten die Stadt, es kam zu Kämpfen, und am Ende bot sich den kaum 700 zurückgebliebenen Einwohnern ein Bild des Grauens und der Auflösung.

Aber die Wiener-Neustädter haben auch das nicht tatenlos hingenommen] sondern machten sich, wie so oft in ihrer Geschichte, sofort an den Wiederaufbau. Die Arbeiter versuchten die Fabriken in Gang zu bringen, die Handwerker legten mit den primitivsten Werkzeugen Hand an, Kaudeute und Verkehrsgewerbetreibende kümmerten sich zusammen mit der Bauernschaft um die Versorgung der Bevölkerung. Wer heute die Bilder dieser Zeit vor Augen hat, dem muß es wie ein Wunder erscheinen, daß die Stadt heute überhaupt noch besteht. Die einzigartigen Leistungen, die hier vollbracht wurden, kpnnen nicht genug gerühmt werden. Ein neues Gemeinwesen ist entstanden, und es verdient, daß man sich heute überall in Oesterreich mit seinen Sorgen und Wünschen befaßt.

Wiener Neustadt war der erste österreichische Notstandsbezirk, der von sich reden machte, und hier entstand auch der erste Entwicklungsausschuß Oesterreichs, der sich den Wirtschafts-ausbau der Stadt zum Ziele setzt und der auch die ersten Werbeaktionen in dieser Hinsicht gestartet hat. Wiener Neustadt war auch als erster städtischer Bezirk Oesterreichs der Gegenstand einer überaus exakten und eingehenden Untersuchung durch die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Planung in Wien (heute „Institut für Raumforschung“), die auch konkrete Vorschläge für die Ansiedlung von Betrieben des Gebrauchsgiitersektors machte. Seither ist wiederholt die Aufmerksamkeit breiter Kreise auf die Tatsache gelenkt worden, daß der eigentliche Wiederaufbau der Stadt heute im großen und ganzen beendet ist, daß aber noch Lücken in der Industrie bestehen. Die Stadt zählt heute 15 Industriebetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten, zusammen rund 4000 Arbeiter und Angestellte, und zwar Betriebe der Textil-, •Gießerei-, Maschinen-, Fahrzeug;-- Eisen- und\ Metallwaren-, Pappen-, Nahrungs- und Genuß- i mittel- und de'r Harzindustrie. Außerdem sind im Stadtbezirk 841 Handwerksbetriebe, 1219 Kaufleute, 145 private Verkehrsunternehmungen und 248 Gast- und Beherbergungsbetriebe vorhanden. 6 Kreditinstitute stehen zur Verfügung.

All das wären gute Vorbedingungen für eine Industrieansiedlung. Darüber hinaus fällt aber noch die günstige Lage Wiener Neustadts zu den Oststaaten, zur Bundeshauptstadt Wien, zum gesamten Wiener und niederösterreichischen Industriegebiet ins Gewicht, das nicht weniger als 37 Prozent der Industriebeschäftigten ganz Oesterreichs aufweist und deshalb auch ein ganz hervorragendes Konsumzentrum ist. Es kommt dazu, daß ein günstiges Industriegelände für neue Betriebe vorhanden ist, daß dank der zwei vorhandenen Flugplätze, der Eisenbahnvirbindungen und der geplanten Autobahn die Verkehrsverhältnisse günstig sind, daß eine Erdgasleitung an Wiener Neustadt vorbeiführt und daß ein reiches kulturelles Leben, ein gutentwickeltes Schulwesen, Gelegenheit zur Sportausübung usw. den Aufenthalt hier sehr angenehm macht.

Die Handelskammer Niederösterreich weiß, daß es zu ihren ureigensten und überdies gesetzlich verankerten Aufgaben gehört, Einrichtungen zur Förderung der Wirtschaft ins Leben zu rufen; darüber hinaus ist es ihr aber eine freudig übernommene Pflicht, einer Stadt wie Wiener Neustadt zu helfen, die wie keine andere unserer Heimat gelitten hat. Wir alle erkennen mit Bewunderung an, wieviel hier geschaffen wurde, und meinen, daß alles darangesetzt werden müßte, um auch die letzte Etappe des Wiederaufbaues zu vollenden

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