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Wiener Neustadt — Geschichte und Gegenwart

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Die Niederösterreichische Landesausstellung 1954 rückt Wiener Neustadt, die Stadt auf dem Steinfeld, weithin ins Blickfeld der Oeffent- lichkeit. Gäste aus den Bundesländern, die zu erwarten sind, werden noch sehr häufig den Spuren des zweiten Weltkrieges, den Wunden und Schrammen des Bombenkrieges begegnen, aber auch einem energischen Aufbauwillen, einer gewerblichen und merkantilen Lebenskraft, wenn auch nicht dem Elan der Industrie, der Wiener Neustadt vor und nach 1900 berühmt gemacht hat. Aber es gibt noch ein anderes, bleibendes, heimliches Wiener Neustadt, das nicht an Konjunkturen gebunden ist: eine historische Stadtseele.

Um sie zu erfühlen und zu entdecken, wird man vor den markantesten alten Bauwerken der Stadt verweilen, man wird Chroniken aufblättern und den Lauf der wechselvollen, oft hochdramatischen Stadtgeschichte verfolgen .. . Der Steingrund eines Urmeeres, das vor Hunderttausenden von Jahren aus dem heutigen Mitteleuropa zurückgewichen ist, aber Sümpfe und Seen hinterlassen hat, die auch wieder ausgetrocknete und steinige schotterige Ebenen zurückließep —: das ist das Bau- und Siedlungsfundament von Wiener Neustadt. Kelten und Römer konnten erst die Ränder des Steinfeldes besiedeln. Nach dem

Avarensturm, den der Frankenherrscher Karl der Große eindämmte, war das Steinfeld immer noch Oedland. Erst die neubestellten Markgrafen und das in herzoglichen Rang erhobene Geschlecht der Babenberger sicherten auch dieses Gebiet, als es endgültig den Madjaren abgerungen war, der Kultur, der christlichen Kolonialisation. Als Abwehrfestung gegen den Osten stiegen endlich zwischen 1192 und 1194 die ersten Mauern der von Leopold V. von Babenberg gegründeten „Neuen Stadt" auf. Unter Leopold VI. wurde der quadratische Stadtplan von Wiener Neustadt weiter verwirklicht, ausgebaut. Dieses Parallelogramm ist durch ein Kreuz von vier Hauptgassen gekennzeichnet, die in den weiträumigen Hauptplatz einmünden. Noch heute gibt diese Uranlage dem Stadtbild seinen Charakter.

Mit der Wähl Friedrichs III. zum Römischen Kaiser Deutscher Nation 1451 kam eine Glanzzeit für Wiener Neustadt: der Herrscher wählte sie zu seiner Residenz. Aber der österreichische Adel erhob sich gegen ihn und belagerte Wiener Neustadt. Ein riesenhafter Stadtbürger zeichnete sich bei diesen Kämpfen aus: Andreas Baumkirchner. Türkengefahr drohte und der ehrgeizige Nachbarkönig Matthias Corvinus von Ungarn, der 1487 die Stadt auf kriegerischem Weg in Besitz nahm und etliche Jahre unter seiner

Herrschaft hielt. Pest und Türkennot folgten, das glorreiche Regiment Maria Theresias und der Klostersturm unter Josef II….

Das 19. Jahrhundert mit dem Anbruch des technischen Zeitalters, mit dem Siegeszug der Industrie und der Niederlage des Handwerks und kleinen Gewerbes trug nach Wiener Neustadt den Flugsand der neuen Zeit, trügerischen Wohlstand, Gründertum. Die alten Stadtmauern wurden zu eng, vor ihnen siedelten sich große Industrien an, die Siglsche Lokomotivfabrik, später die Daimler- Werke, Flugzeugwerke. Arbeiterscharen vermehrten sprunghaft die altansässige Stadtbevölkerung. Die. Entwicklung führte in die Kriege, Rüstungsindustrien des 20. Jahrhunderts hinüber, die einmal den wirtschaftlichen Zusammenbruch, das andere Mal fast die totale Zerstörung der Stadt durch Bombenangriffe brachte. Menschenverlassen und in Trümmern liegend, fröstelte Wiener Neustadt 1945 einer unbestimmten Zukunft entgegen.

Inzwischen sind neun Jahre ins Land gegangen. Wiener Neustadt hat sich aus Ruinen zu einem neuen Friedensstadtbild, m Leben und Tätigkeit durchgerungen. Der Bund unterstützte den Wiederaufbau der Stadt besonders kräftig, nicht nur den des historischen Burggebäudes, sondern auch den der Geschäftsstraßen, der Wohnsiedlungen und Familienhäuser. Die Gemeinde kämpfte unter erschwerten Bedingungen um den sozialen Standard der Stadt, die ihres Rückhaltes, der Industrie, beraubt war. Doch neue Impulse kamen von der Privatwirtschaft, von Handel und Gewerbe: ein Zeugnis davon legten die Wiener- Neustädter Ausstellungen seit 1949 ab, deren Krönung heuer die Niederösterreichische Landesausstellung bilden soll. Es ist unwahrscheinlich, in unserer Zeit das Wiederaufblühen einer Großindustrie an einem Ort zu erwarten, der von Natur aus ohne Rohstoffe ist. Aber Bürgerfleiß, gewerblicher, landwirtschaftlicher und handels- männischer Unternehmergeist können ausgleichen, was vom Schicksal versagt ist. In seinen gegebenen Grenzen ist Wiener Neustadt ein stattlicher, lebensfähiger Stadtorganismus Oesterreichs.

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