Sündenbock - © Foto: Getty Images / C. J. von Duehren/ullstein bild  -  Illustration von Rolf von  Hoerschelmann (1885–1947)

Fragen nach den Opfern: Und wer ist schuld?

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Gerade in Pandemiezeiten verlaufen gesellschaftliche Opferdiskurse zwischen Macht und Ohnmacht. Die Versuchung, die Schuld für Wehrlosigkeit und Leid auf einen Sündenbock zu übertragen, ist groß.

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Gerade in Pandemiezeiten verlaufen gesellschaftliche Opferdiskurse zwischen Macht und Ohnmacht. Die Versuchung, die Schuld für Wehrlosigkeit und Leid auf einen Sündenbock zu übertragen, ist groß.

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Was vor einem Jahr noch niemand für möglich gehalten hätte, ist eingetreten. Die ganze Welt ist zum Opfer geworden, zum Opfer eines Virus. Corona löst nicht nur eine Erkrankung bei Menschen aus, die unmittelbar zum Tod führen kann, sondern nötigt die politisch Verantwortlichen zu einschneidenden Entscheidungen, um die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems zu gewährleisten. Diese sind für viele Menschen mit drastischen Einschränkungen verbunden und bringen unter verschiedenen Rücksichten weitere Opfer mit sich: im Sozialbereich, in wirtschaftlicher Hinsicht, in Sachen Bildung, mit Blick auf Zukunftsperspektiven. Die Beeinträchtigungen sind je nach sozioökonomischen Voraussetzungen ungleich verteilt, betroffen sind dennoch alle.

In dieser Situation, in der sich alle Menschen als Opfer erfahren, zeigt sich in verschärfter Weise eine grundlegende Rationalität. Diskurse drehen sich zum einen darum, wer die größten Einschränkungen in der Krise zu erleiden hat, dadurch also am meisten zum Opfer geworden und entsprechend auch den größten Anspruch auf einen Ausgleich einzufordern berechtigt ist. Dies geschieht meist nicht nur (nachvollziehbarerweise) aus der eigenen Perspektive heraus, sondern in erster Linie mit Blick und Rekurs (nur) auf sich selbst. Zum anderen geht es, unmittelbar damit zusammenhängend, um Überlegungen, wer denn die Schuld an der ganzen Misere und der eigenen Opfererfahrung trägt. Dabei finden sich Schuldige auf verschiedenen Ebenen: der Ursprung des Virus – also China; die einschränkenden Maßnahmen – also die jeweiligen politischen ­Entscheidungsträger; die Mängel im Krisenmanagement – also diverse Behörden; die das Virus Verbreitenden – also diejenigen, die krank werden oder sich offenkundig zu wenig an die gesetzlichen Covid-19-Schutzvorgaben halten.

Alle sind Opfer unter der Pandemie

Alle sind zugleich ohnmächtige Opfer, als Leidende unter der Pandemie und den damit einhergehenden Maßnahmen, und wirkmächtige Täter, auf der Suche nach den Schuldigen. Die in dieser verschärften Deutlichkeit zutage tretende doppelte (Diskurs-)Dynamik ist kein überraschender oder neuer Krisenmodus. Bei ähnlich gearteten gesellschaftlichen Herausforderungen scheinen immer schon analoge Dynamiken gewirkt zu haben, häufig mit schrecklichem Ausgang. Im Mittelalter hatten die der Verursachung einer Krise Verdächtigten, besonders oft Juden, durchaus mit dem Leben zu bezahlen. So weit gehen die Konsequenzen gegenwärtig nicht – und dennoch ist die dahinterliegende Logik dieselbe.

Auf solche sich gerade in Krisensituationen durchhaltende gesellschaftliche Rationalitäten macht einer der wohl wichtigsten Opfertheoretiker der Gegenwart aufmerksam. René Girard (1923-2015) bietet mit seiner Mimetischen Theorie ­eine Deutung von alle Gesellschaften prägenden Viktimisierungsprozessen. Es ist ein analytischer Zugang, der hilft, bei den so emotionalen Auseinandersetzungen um Opfer und Täter, Macht und Ohnmacht grundlegenden anthropologischen und sozialen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen. Häufig werden dem Opfer ja ein moralischer Mehr-, den ausgemachten Schuldigen ein Minderwert zugesprochen und alle Debatten in der Folge in erster Linie in moralisierender Weise geführt.

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