Das Virus und wir
DISKURSCorona-Impfung als Brexit-Dividende
In Großbritannien sind fast neun von zehn Personen über 16 Jahren gegen Corona geimpft. Aber woher kommt diese hohe Bereitschaft, sich impfen zu lassen? Über den historischen Nationalen Gesundheitsdienst, das Kräftemessen mit der EU und den Stolz auf AstraZeneca.
In Großbritannien sind fast neun von zehn Personen über 16 Jahren gegen Corona geimpft. Aber woher kommt diese hohe Bereitschaft, sich impfen zu lassen? Über den historischen Nationalen Gesundheitsdienst, das Kräftemessen mit der EU und den Stolz auf AstraZeneca.
In Österreich lebende Briten wundern sich. Wieso diese geringe Begeisterung für die Covid-19-Impfung? In Österreich haben gerade einmal 62 Prozent der impfbaren Bevölkerung eine Impfung erhalten. Im krassen Gegensatz dazu steht das Vereinigte Königreich: Dort sind bereits fast neun von zehn Personen über 16 Jahren gegen Corona geimpft. Der Unterschied in der Durchimpfung bringt sichtbare Unterschiede im Alltag mit sich: In Wien trägt jeder in Geschäften und in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maske; wer in einem Restaurant ein Sandwich essen, einen Kaffee trinken oder sogar den Zoo besuchen will, muss einen Grünen Pass vorzeigen.
In England hingegen tragen seit dem so genannten „Tag der Freiheit“ im Juli nur noch wenige Menschen Masken, selbst in überfüllten Londoner U-Bahnen. Die rechtskonservativen Abgeordneten sitzen im Parlament bereits wieder dicht gedrängt und ohne Maske, während die linke Labour-Partei weiterhin Masken trägt und ihre Mandatare zwei Meter Abstand voneinander halten. Begründet wird all dies mit der hohen Impfrate in Großbritannien. Und das, obwohl die Zahl der Infektionen und Krankenhauseinweisungen weiter steigen. Aber warum also lassen sich die Briten so gerne impfen? Eines ist klar: An Impfpässen und damit verbundenen Zugangsberechtigungen liegt es nicht. Großbritannien hat von Beginn seiner Impfkampagne an einen ganz anderen Weg als Österreich eingeschlagen und versprochen, niemals einen Impfpass wie den österreichischen Grünen Pass einzuführen. Impfstoffminister Nadhim Zahawi twitterte bereits im vergangenen Jänner: „Wir haben keine Pläne zur Einführung von Impfpässen... Niemand hat einen Impfpass erhalten oder wird einen solchen benötigen.“ Und dabei blieb es. Bisher.
Was einer Religion am nächsten kommt
Impfpässe werden von vielen liberalen Abgeordneten der konservativen Partei weiterhin vehement abgelehnt. Es wurden zwar Pläne erörtert, wonach für den Besuch eines Nachtclubs oder einer Großveranstaltung ein negativer PCR-Test oder ein Impfzertifikat vorgelegt werden sollte – aber das wurde nie umgesetzt. Mit einer Ausnahme: in Schottland, das aufgrund der föderalen Struktur Großbritanniens eigene Maßnahmen beschließen kann. Auch ist die Impfung derzeit für die meisten Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich nicht vorgeschrieben. Diskutiert wird lediglich, ob Beschäftigte im Gesundheitswesens geimpft werden müssen. Und ab November müssen Beschäftigte in der sozialen Pflege doppelt geimpft werden.
Der Schlüssel zu der hohen Impfquote aber ist ein ganz anderer: Fundament ist das Vertrauen der Briten in das Gesundheitssystem des Landes. Dessen Kern: der Nationale Gesundheitsdienst NHS, ein zentralisiertes öffentliches Gesundheitssystem, das kostenlose Gesundheitsversorgung im Bedarfsfall bietet. Es wurde in den 1940er Jahren eingerichtet und ist, um Margaret Thatchers Schatzkanzler Nigel Lawson zu zitieren, „das, was für das englische Volk einer Religion am nächsten kommt“. Diese Verehrung des NHS hat sich während der Covid-19-Pandemie noch verstärkt – und das trotz einer in Großbritannien im europäischen Vergleich sehr hohen Sterberate. Aber dennoch: 2020 standen Millionen Menschen zehn Wochen lang Tag für Tag vor ihren Häusern und klopften auf Töpfe und Pfannen - und applaudierten so den NHS-Mitarbeitern.
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