Idlib - © Foto: APA / AFP / Aaref Watad

Flucht und Corona: „Virus wird sich wie Buschfeuer verbreiten“

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Während die Türkei wieder Flüchtlinge an die EU-Grenze verfrachtet, wird die Lage der Kriegsvertriebenen in Idlib unerträglich. Nach der Zerstörung droht nun Covid-19.

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Während die Türkei wieder Flüchtlinge an die EU-Grenze verfrachtet, wird die Lage der Kriegsvertriebenen in Idlib unerträglich. Nach der Zerstörung droht nun Covid-19.

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Die russisch-syrische Offensive in Idlib hat eine Million Flüchtlinge an die türkische Grenze getrieben. Seit 5. März gilt eine Waffenruhe. Zusätzlich zum Elend in den Flüchtlingscamps und dem brüchigen Frieden droht der Nordwestprovinz nun ein unkontrollierter Corona-Ausbruch. „Wir erwarten eine Katastrophe“, sagt Sami Qadour, Arzt im Al-Kuwait-Krankenhaus in Aqrabat.

Neun Jahre Krieg haben die medizinischen Ressourcen und Kräfte der Ärzte aufgebraucht. Es fehle an Personal, Antibiotika und Medikamenten, an Sterilisationsmaterial, OP-Handschuhen und Nadeln. Das Stromnetz ist zusammengebrochen, der Diesel für die Generatoren knapp. Auch die finanziellen Reserven des 35 Kilometer nördlich von Idlib gelegenen Hospitals seien erschöpft. „Seit 1. Jänner arbeiten meine Kollegen und ich unentgeltlich“, so der Arzt. UOSSM, eine Vereinigung humanitärer, medizinischer Nicht-Regierungsorganisationen, hat zugesagt, die Zahlung der Gehälter ab April zu übernehmen.

Und jetzt Covid-19. Die Maßnahmen, die sie gegen eine unkontrollierte Verbreitung des Virus unter den drei Millionen Bewohnern der Provinz ergreifen können, seien begrenzt, erklärt der Arzt am Telefon. Um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren, ist im Krankenhaus pro Patient nur ein Besucher erlaubt. Alle nicht-lebensnotwendigen Operationen wurden ausgesetzt. „Schutzmasken, Einweghandschuhe und Schutzbrillen fehlen in allen Krankenhäusern Idlibs“, so Qadour. Hinzu komme eine bedrohliche Knappheit an Beatmungsgeräten. Das Al-Kuwait-Krankenhaus verfügt über ein einziges Exemplar. „In der gesamten Provinz Idlib gibt es 50 Beatmungsgeräte, vielleicht weitere 50 in der Region Afrin.“

Großflächiges Testen der Bevölkerung ist nicht möglich. Das einzige Labor, das die für die Covid-19-Diagnose benötigten Tests durchführen kann, befindet sich in der Stadt Idlib. Derzeit verfügt das Labor über Testkits für etwa 6000 Personen.

Achillesferse der Türkei

Im Schatten der aufkommenden Coronakrise droht auch der Kampf um Idlib zu eskalieren. Das Waffenstillstandsabkommen vom 5. März sieht vor, dass die durch die Provinz führende Autobahn M5, die Aleppo mit Damaskus verbindet, unter Kontrolle der syrischen Armee bleibt. Die M4 hingegen, die von der Hafenstadt Latakia in den Osten Syriens führt, soll von gemeinsamen russisch-türkischen Patrouillen kontrolliert werden. Doch zivile Proteste und Straßenblockaden verhinderten bisher, dass die Patrouillen wie geplant durchgeführt werden konnten. Am 19. März starben zwei türkische Soldaten durch Sprengsätze auf der M4. Für die Vorfälle wird die Al-Qaida-nahe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) beziehungsweise jihadistische Gruppen aus ihrem Umfeld verantwortlich gemacht. „HTS will keinen Frieden“, so Yahya Mayo, Medienkoordinator der von der Türkei unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA). „Wir versuchen immer wieder sie (Anm.: jihadistische Gruppen) zu zügeln, sollte der Waffenstillstand platzen, werden sie dafür zur Verantwortung gezogen.“

Die Vorfälle zeigen, wie gespalten die Opposition in Idlib ist. Gleichzeitig kooperieren die einzelnen Milizen im Kampf gegen die Regierungsarmee. Die FSA würde zwar die Ideologie der Jihadisten nicht teilen, so Mayo, habe aber gemeinsame Einsatzzentralen mit ihnen, um ihr Vorgehen gegen die syrische Armee zu koordinieren. HTS ist mit geschätzten 15.000 bis 20.000 Soldaten die stärkste Rebellenmiliz im Kampf gegen die syrische Armee. Die bewaffnete Opposition kann auf einen Verbündeten mit dieser Kampfkraft nicht leicht verzichten.

Gleichzeitig steht die Türkei unter Druck Russlands, das auf seinem Standpunkt beharrt, jihadistische Milizen in Idlib müssten eliminiert werden, bevor die russisch-syrische Offensive beendet werden kann. Die Jihadisten in Idlib, die Erdoğan zeitweise in ihrem Kampf gegen Assad unterstützt hat, sind seine Achillesferse. Bisher ist die Türkei nicht offen gegen HTS vorgegangen. Unbestritten ist, dass Kämpfe innerhalb der Opposition die Rebellen in Idlib weiter schwächen und einen Vorstoß der syrischen Armee nach Norden erleichtern würden.

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