Dem Trauma der Gewalt ENTGEGENTRETEN

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Wie eine Initiative österreichischer Ärzte Flüchtlingsfamilien aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet unterstützt. "Balsam" will auch die psychischen Wunden heilen.

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Wie eine Initiative österreichischer Ärzte Flüchtlingsfamilien aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet unterstützt. "Balsam" will auch die psychischen Wunden heilen.

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Mit wehmütigem Blick steht Marie-Therese Kiriaky am Geländer einer Brücke über dem Orontes. Die Abendsonne im türkischen Antakya lässt den Fluss gänzlich golden erscheinen, langsam rauscht das aus Syrien kommende Wasser durch die Hauptstadt der Provinz Hatay. "Der Fluss erinnert viele von uns an die verlorene Heimat", erzählt die in Damaskus geborene Österreicherin mit leiser Stimme. Ihre Augen wirken traurig, aber nicht ohne Hoffnung. Es sind nur wenige Kilometer, die die scheinbare Idylle in der türkischen Metropole, dem antiken Antiochia, vom scheinbar niemals enden wollenden Gemetzel in Syrien trennen. Unfreiwillig wurde Antakya zur neuen Heimat für zehntausende Syrier, die in den vergangenen Jahren hier Zuflucht gefunden haben. Immer mehr Menschen fliehen aus dem Bürgerkriegsland in die benachbarte türkische Hatay-Provinz, die bis 1939 selbst Teil des unter französischem Mandat verwalteten Syriens war. Die Akzeptanz der Flüchtlinge ist hier höher als in anderen Teilen der Türkei, dennoch stößt die Provinz an ihre Grenzen.

Hilfe, wo sie gebraucht wird

Kurz nach Ausbruch des Krieges vor mehr als fünf Jahren setzte sich Kiriaky ins nächste Flugzeug, um sich selbst ein Bild der Lage in der Grenzregion zu machen und Hilfe für die unzähligen Flüchtlinge zu organisieren. Sie musste nicht lange warten, um die Grauen des Krieges mit eigenen Augen zu erleben. In der Grenzstadt Reyhanli warteten unzählige Kriegsinvalide auf ärztliche Betreuung. "Ich habe rasch erkannt, dass es an Spezialisten fehlt, die die Menschen vor Ort behandeln und die syrischen Ärzte entlasten können", berichtet Kiriaky. Zurück in Wien gründete sie das private Hilfsprojekt "Balsam", sammelte Spenden von Bekannten und setzte sich in Begleitung von freiwilligen Helfern erneut ins Flugzeug, um syrischen Menschen nahe der Grenze zu helfen. "Seitdem komme ich dreimal im Jahr in die Region", erzählt sie. Begleitet wird Kiriaky dabei jedes Mal von freiwilligen Helfern, Kinderpsychologen oder Fachärzten. "Es gibt viele Wege, das Leid der Menschen zu mindern", ist Kiriaky überzeugt. "Wichtig ist vor allem, mit der dringend benötigten Hilfe einfach irgendwo zu beginnen", ist sie überzeugt.

Dieses Mal ist Kiriaky in Begleitung von Maria Deutinger, Fachärztin für plastische Chirurgie in Wien, um im Emel-Hospital, das kaum 50 Meter von der türkischsyrischen Grenze entfernt liegt, mehrere Tage lang Operationen für betroffene Kriegsflüchtlinge durchzuführen. "Viele meiner Patienten haben schwerste Verbrennungen, verursacht durch Granatexplosionen", erläutert die Fachärztin. So beispielsweise der achtjährige Zijad, der erst vor wenigen Tagen mit seiner Familie aus der heftig umkämpften Region Idlib illegal in die Türkei eingereist ist. Hände, Oberkörper und Gesicht des Jungen sind seit einer Explosion im Kriegsgebiet mit schwersten Brandwunden übersät. Der Junge wurde in einem der wenigen noch nicht zerstörten Krankenhäuser in Syrien versorgt, eine weitere Behandlung des infizierten Narbengewebes muss jedoch von Spezialisten übernommen werden. Für die Familie war die Flucht in die Türkei ohne Alternative. Wie gefährlich diese Reise ist, erzählen viele Flüchtlinge nur unter vorgehaltener Hand, zu groß ist die Angst der Menschen, die meistens keine Papiere besitzen, aus der Türkei wieder in das Kriegsgebiet abgeschoben zu werden.

Nur wenige Monate ist es her, dass die Türkei in einem höchst umstrittenen Deal mit der Europäischen Union sechs Milliarden Euro an Finanzhilfe erhalten hat, um im Gegenzug den Flüchtlingsstrom nach Europa zu unterbinden. Den türkischen Behörden und Militärs scheint es durchaus ernst, auch die letzten Lücken an der grünen Grenze zu schließen. Im Niemandsland wird eine riesige Betonmauer errichtet, zusätzlich tragen Bulldozer große Teile der umliegenden Hügel ab, um so einen unüberwindbaren Abhang zu schaffen, der das unkontrollierte Einreisen in die Türkei verhindern soll. Grenztürme überblicken die Region und sollen zusätzlich das Eindringen islamistischer Terroristen verhindern. Doch scheinen die Militärs auch nicht davor zurückzuschrecken, Waffengewalt gegen Flüchtlinge einzusetzen. Erst vor kurzem berichteten seriöse NGOs, dass türkische Soldaten mehrere Syrer beim Versuch die Grenze zu überwinden, erschossen hätten. Eine offizielle Reaktion der Europäischen Union zu diesen Vorwürfen blieb bislang aus.

Verwundet und traumatisiert

Geduldig lässt der kleine Zijad die Untersuchungen der plastischen Chirurgin über sich ergehen. Maria Deutinger hat bereits Erfahrung in Krisengebieten. Sie operierte Kriegsopfer im Jemen und war auch vor einigen Monaten schon in Reyhanli tätig. "Es kommt immer wieder vor, dass aus der Ferne Gewehrsalven oder Granatdetonationen zu hören sind. Da vergisst man schon mal kurz, dass das Krankenhaus eigentlich auf türkischem Boden steht", berichtet die Ärztin von den Erlebnissen während ihres Einsatzes. Wie allgegenwärtig die Grauen des Krieges sind, zeigt ein Blick in die Wartehalle des Krankenhauses. Wer ins Emel-Hospital kommt, wurde unmittelbar Opfer des Bürgerkrieges. Junge Männer ohne Beine reihen sich neben mit Brandwunden übersäten Kindern und Frauen, der Blick vieler wirkt paralysiert und ohne jegliche Hoffnung, andere wiederum haben ihr Augenlicht gänzlich verloren. Für Deutinger steht die rasche medizinische Hilfe ihrer Patienten im Vordergrund. "Den meisten Menschen kann mit einer ein- oder zweistündigen Operation bereits sehr geholfen werden, ihr Leiden zu mindern", sagt die Ärztin.

Rasch entscheidet sie, wie Zijad, dem jungen Patienten, der so geduldig auf seine Behandlung wartet, am besten medizinisch geholfen werden kann. Bereits am nächsten Tag führt Deutinger eine knapp einstündige Operation durch, in der etwas Haut des Jungen transplantiert wird, um das infizierte Narbengewebe heilen zu können. Die Schlange der Patienten, die sich von Deutinger behandeln lassen will, wird immer länger. Jeder möchte die Gelegenheit nutzen, dass eine Spezialistin vor Ort ist und dem Leiden der Menschen zumindest etwas entgegenwirken kann.

Hoffnungsträger

"Wir helfen jedoch nicht nur mit Operationen, sondern versuchen den Betroffenen auf unterschiedliche Weise ein wenig Hoffnung zu geben", erzählt Kiriaky. Zusammen mit jungen Freiwilligen aus Österreich organisiert sie Workshops für traumatisierte Kinder, hält Vorträge gegen häusliche Gewalt und organisiert die Verteilung von Medikamenten, Kleidung, Essen und Spielsachen. Am Markt von Antakya kauft Kiriaky unter anderem zwei Dutzend Kinderschuhe in verschiedenen Größen, um sie an notdürftige Familien, die teilweise wild auf landwirtschaftlichen Nutzflächen campieren, zu verteilen. "Wenn ich die strahlenden Augen der Kinder sehe und ihr Lachen den traurigen Alltag unterbricht, dann macht mich das unbeschreiblich glücklich", erklärt Kiriaky ihre schier unermüdliche Motivation. Bei ihren Einsätzen ist das "Balsam"-Team fast ausschließlich auf private Spenden angewiesen und auch diese werden immer weniger. "Der Krieg dauert einfach schon viel zu lange und die Bereitschaft zu spenden geht zurück", weiß Kiriaky zu berichten. Dennoch wird sie weitermachen. Die nächste Reise ist schon geplant, die freiwilligen Helfer organisiert und zumindest einige Spenden gesammelt. Und während die letzten Sonnenstrahlen auf den Orontes wiederspiegeln, bleibt auch noch Zeit für einen hoffnungsvollen Gedanken: "Irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist, werden wir den Menschen im ganzen Land helfen können und mit vereinten Kräften Syrien wieder aufbauen". Sie weiß, es ist ein Traum. Aber für jemanden der so viel Hoffnung gibt, scheint es keine Option zu sein, diese jemals zu verlieren.

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