6859782-1977_31_06.jpg
Digital In Arbeit

Nicht alle Tage gibt es Jubiläen

Werbung
Werbung
Werbung

Der Geist der britischen Monarchie ist, ganz im Gegensatz zu jenem der Medizin in Goethes mephistophelischem Sinne, wirklich nicht leicht zu fassen. Da ist ein Land, zerrissen und aufgewühlt von den schwersten Problemen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur, ein Land, das sich scheinbar seiner eigenen Werte und Traditionen ebenso unsicher geworden ist wie seiner Stellung in der heutigen Welt, in der es nach dem Verlust des Empire, tastend nach neuen Zielen und Funktionen sucht. Ein Land also, das wahrlich andere Sorgen haben sollte, als im größten Stil das silberne Thronjubiläum seiner Königin zu feiern, einer Königin, die nach dem Diktum eines prominenten amerikanischen Journalisten in England „über die härtesten 25 Jahre dieses Jahrhunderts” geherrscht hat.

Es war der große österreichische Staatsmann Metternich, der die Monarchie als den einzigen sicheren Wall gegen Revolution und Anarchie be- zeichnete - in einer Zeit, die auch nicht gerade einfach für sein Land war. Und Großbritannien heute? Was ist sein wahres Gesicht? Ist es die jetzt durch Elizabeth II. verkörperte Monarchie, die ebenso die Achtung der ganzen Welt genießt wie die im Jubiläumsjahr erneut bestätigte Liebe des britischen Volkes - oder sind es die Streiks, ist es Arbeitsscheu, Unruhen und Zusammenstöße, all das, was so oft das Bild einer gespaltenen, tief mit sich selbst zerfallenen Nation heraufbeschwört?

Wer Augen hatte, zu sehen, und sich in der Jubiläumswoche in England befand, dem kann die Antwort auf diese Fragen nicht schwerfallen. Waren es nicht in London gerade die reinen Arbeiterviertel des Eastend, wo die größten Feierlichkeiten, die begeistertsten Menschenmengen und der üppigste Straßenschmuck zu finden waren? Und sind nicht gerade diese Arbeiter jener Bevölkerungsteil, auf den sich eben jene extrem linksgerichteten Politiker zu berufen vorgeben, wenn sie Umsturz und Revolution predigen? Die mittleren und oberen Klassen der englischen Gesellschaft, deren Wunsch nach dem Fortbestehen der Monarchie ohnehin feststeht, waren nicht minder begeistert, aber natürlich mit „vornehmer Zurückhaltung”. Der stürmischeste Tribut jedoch wurde der Königin von jenen Briten gezollt, deren Weltbild und Lebensstil am weitesten von dem ihren entfernt sind.

Und warum auch nicht? Sehen wir uns doch einmal die „25 härtesten Jahre” näher an, über die Königin Elizabeth II. bisher in Großbritannien geherrscht hat. Dieses Vierteljahrhundert sah unter anderen die mehr oder weniger friedliche und geordnete Auflösung eines ganzen Empire, verbunden erstaunlicherweise mit einem für britische Verhältnisse rapiden Wirtschaftswachstum, und eine minimale Arbeitslosigkeit - nahezu Vollbeschäf- tigung - während des längsten Teils dieser Ära. Und selbst der leicht sinkende Lebensstandard in den letzten drei Jahren - immerhin zu einem größten Teil die Konsequenz einer Weltrezession - hat nicht annähernd dieselben katastrophalen Wirkungen gehabt wie etwa die schweren Wirtschaftsdepressionen 1908 bis 1909 und in den dreißiger Jahren - dafür hat schon der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Wohlfahrtsstaat gesorgt. Und wer könnte bestreiten, daß Elizabeth II. an der Spitze einer Gesellschaft steht, in der für heutige Verhältnisse außergewöhnlich hohe soziale Stabilität und Solidarität herr-’ sehen? Wie viele andere europäische Länder hätten es vermocht, innerhalb von wenigen Jahren einen Zustrom von eineinhalb Millionen Menschen des verschiedenartigsten ethnischen und sozialen Charakters permanent in ihrän Grenzen aufzunehmen, ohne dadurch gewaltsame und gewalttätige Veränderungen und Umbrüche in ihrer Gesellschaftsordnung auszulösen? Daß dies in Großbritannien nicht der Fall war, ist nach Ansicht der meisten in- und ausländischen politischen Beobachter unter anderem eine Folge des beständigen, über der Tagespolitik stehenden monarchischen Systems, in dem eine Gesellschaft verwurzelt ist, die wahrscheinlich zu den im besten Sinne konservativsten der Welt gehört. Und die vielen schwarzen, braunen und gelben Gesichter, die bei den Jubiläumsfeierlichkeiten in den Jubel miteinstimmten, legten dafür dankbares Zeugnis ab.

Diese allen äußerlichen Erscheinungen zum Trotz vorhandene, immanente Stabilität der britischen Gesellschaft hat durch das . königliche Silbeijubiläum konkreten Ausdruck erhalten und eindeutig alle Kassandrarufe widerlegt, daß Großbritannien immer unregierbarer, anarchischer und für marxistische Agitation anfälliger werde. Kein objektiver Beobachter kann sich der Erkenntnis entziehen, daß alle vergleichbaren Staaten Westeuropas - Deutschland, Frankreich, Italien - für die Gefahren eines Totalitarismus von Rechts oder Links wesentlich anfälliger waren und sind als Großbritannien. Und sollte es wirklich nur ein Zufall sein, daß die meisten anderen stabilsten Nationen Europas - Holland, Schweden, Dänemark und Norwegen - ebenfalls konstitutionelle Monarchien sind?

Freilich, großangelegte königliche Feierlichkeiten können nicht alle Tage angesetzt werden, selbst wenn sie mit einer von allen Seiten anerkannten Sparsamkeit wie diesmal durchgeführt werden. Im politischen Alltag muß es den politischen Parteien und ihren führenden Vertretern überlassen bleiben, für Stabilität und nationale Einigkeit zu sorgen, eine Aufgabe, die sie im letzten Vierteljahrhundert auch einigermaßen erfolgreich erfüllt haben - bis auf die letzten zwei oder drei Jahre. Heute gibt es in Großbritannien eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte, ihrer selbst und ihrer Ziele völlig unsicher gewordene Labour- partei in den letzten Zügen ihrer Amtsperiode, und eine durch viele äußere und innere Mißerfolge entnervte Konservative Partei, die ihren alten Mut zum Patriotismus nicht mehr oder noch nicht wieder offen zu zeigen und dem Volk zu vermitteln vermag. Was aber gerade Großbritannien vor allem anderen braucht, das ist eine Bestätigung, eine Gewißheit seiner patriotischen Tradition, eine Institution, die all das symbolisiert, was gut und richtig ist in diesem Land. Großbritanniens nächste Premierministerin hat viel von ihrer Königin zu lernen - von dem magischen Rezept der Monarchie, ein Volk durch freudiges Fühlen zum freudigen Handeln zu bewegen. „Opium des Volks”? Vielleicht - vielleicht aber auch nur gerade die richtige historische Therapie eines, „stimulativen Sedativs” ohne schädliche Wirkung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung