Viele Fächer - eine Bildung

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Das Fachwissen explodiert, jetzt sind in der Schule wieder Verbindungen zwischen den Gegenständen, Leitideen besonders gefragt, zumindest Schwerpunkte, die zur Orientierung dienen.

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Das Fachwissen explodiert, jetzt sind in der Schule wieder Verbindungen zwischen den Gegenständen, Leitideen besonders gefragt, zumindest Schwerpunkte, die zur Orientierung dienen.

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Das physikalische Phänomen zentrifugaler und zentripetaler Kräfte kennzeichnet als Bild der Flucht (fugere) aus der wie des Strebens (petere) in die Mitte auch politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Prozesse. Entflechten, Emanzipieren, Delegieren, Deregulieren und Privatisieren sind wesentliche Programmpunkte der Abkehr von übergeordneter zentraler Verfügung. Offene, weil nicht mehr regulierte Räume, Freisetzung der eigenen Kräfte und autonome Entscheidungen werden neue Fixpunkte. Um diesen einen Prozeß nicht in Zerfall und Auflösung und damit in die Umkehr zu neuen autoritären Strukturen zu treiben, muß parallel dazu aber nach weiterreichender Ordnung als Übereinkunft, Zusammenhalt und Orientierung gesucht werden. Die Sehnsucht nach Synthese ist immanent.

Nicht wenige Wissenschaftler leiden unter dem Zerfall der wissenschaftlichen Welt in Partikularitäten, der von einem Prozeß des fortschreitenden Orientierungsverlustes begleitet wird. Nicht wenige Schulleute leiden an der Isolierung und der schwindenden Bildungswirkung ihrer Fächer.

Auswahl und Orientierung Humboldt sah die einheitliche, geschlossene Bildung dadurch gesichert, daß der Geist an möglichst wenig Gegenständen möglichst vielseitig zu entfalten sei. Die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen führte zu einer größeren Zahl von Unterrichtsfächern, zu einer Verbreiterung des "Bildungskanons"; die Bildungsinhalte verschiedener Disziplinen sollten zu einer allgemeinen Bildung beitragen. Und die hat nie in der sogenannten "enzyklopädischen Bildung" als Wissen alles Wissenswerten bestanden, sondern stets in Auswahl und Orientierung.

Für "Berufsbildende Schulen" ist, wenn auch bei weitem nicht mehr in der strengen Linie früherer Strukturen, das jeweilige Berufsbild Zielsetzung und Orientierungspunkt des Bildungsganges. "Allgemeinbildende Schulen", deren "Typen" wesentliche Charakterzüge eingebüßt haben, spüren den Verlust inneren Zusammenhanges deutlicher. Angebote zur individuellen Wahl von Fächern, Zusammenführung oder zumindest stärkere Kooperation verschiedener Fachgebiete und Schwerpunktbildungen sollen Wege zur Wiederfindung des Gemeinsamen in der Bildung erschließen.

Wahlfachsysteme sollen es dem Schüler ermöglichen, an der Bestimmung seines Bildungsganges teilzunehmen und sich auf jene Bereiche zu konzentrieren, die seinen Neigungen und Interessen entsprechen sowie die Planung für weiterführende Ausbildung (Berufseintritt, Studium) unterstützen. Wichtig dabei ist die richtige, ausgewogene Zuordnung der individuell gewählten Fachbereiche zur allgemein verbindlichen Fächergruppe, zum fachlichen Kernbereich (die Reform der gymnasialen Oberstufe in den späten achtziger Jahren hat darauf Bedacht genommen).

Zu weit gehende Individualisierungen, wie etwa ein zu stark betontes Kurssystem oder mehr oder weniger willkürliche Zusammenfügungen von "Bausteinen", können zur Desorientierung und zu bedenklichen Spätfolgen führen. Deutsche Studien, die sich gründlich mit den in diesen Landen stärker verbreiteten schulischen Kurssystemen beschäftigen, weisen deutlich darauf hin.

"Fächerübergreifendes Unterrichten setzt die in einzelne Fachbereiche aufgeteilte Wirklichkeit des Lebens und der Welt ein Stück weit wieder zusammen ... Fächerübergreifendes Unterrichten fügt wieder zusammen, was von den Fachwissenschaften isoliert wurde." Sätze aus einem Protokoll einer Arbeitsgruppe evangelischer Religionslehrer, die Sorge und Hoffnung enthalten - Sorge um eine Bildung, die in Teilstücke zu zerfallen droht, Hoffnung auf neue Verbindungswege. Engagierte Bemühungen gehen vom Schulfach Religion aus, naturwissenschaftliche Fachgebiete werden unter bestimmten Themen koordiniert, künstlerische Bildung wird aus unterschiedlichen Zugängen angestrebt.

"Projektarbeit", "Themenorientierung" - leider auch als Zauberworte mißbraucht und darum schon etwas abgegriffen - werden zum Aufbrechen von Fachgrenzen eingesetzt. Neben dem sektoriellen soll das vernetzte Denken gepflegt, neben fachspezifischen sollen fächerübergreifende Kompetenzen erworben werden. "Handlungsorientierung" wie etwa im Einsatz erworbener Fremdsprachenkenntnisse in bestimmten fachlichen Arbeitsgebieten kann solche Intentionen verstärken. Problematisch sind aber Unternehmungen, die eine Auflösung von Fächern "Lernfelder" mit thematischen Fixpunkten zum Ziel haben. Hier kann die "Einheit der Bildung" zur Scheinlösung werden.

"Musisches Gymnasium" Das "Prinzip des Musischen" sollte nicht auf die künstlerischen Fächer eingeschränkt sein, sondern sämtliche Unterrichtsbereiche einer Schule durchdringen und damit zur umfassenden musischen Erziehung des jungen Menschen werden. Diese besonders von Bernhard Paumgartner nachdrücklich betonte Leitidee war richtungweisend bei der Gründung des "Musischen Gymnasiums" in Salzburg in den sechziger Jahren. Erfolge und Schwierigkeiten, Höhepunkte und Verflachungen dieses faszinierenden Experiments, in einer verbindenden Idee die Vielfalt der Fächer unter Wahrung ihrer wesentlichen Eigenständigkeiten zu erfassen, sind nachgewiesen. Der andere Weg, bestimmte Unterrichtsbereiche als Schwerpunkte einer Schule zu festzulegen und andere Fächer zumindest in Ansätzen auf diesen Schwerpunkt zu orientieren, war eher zu realisieren. Vor allem musikalische, bildnerische und sportliche Schwerpunkte sind in einer relativ großen Zahl von Schulen zu jenem Kernbereich geworden, dem die Funktion einer grundlegenden Orientierung zukommt.

Folgt man dem vor zwanzig Jahren erschienenen Ministerialerlaß über "Politische Bildung in den Schulen", der bisher letzten bildungspolitischen wie pädagogischen Darstellung von Zielsetzung und Synthese im Bildungsprozeß, so ist Orientierung in dreifacher Hinsicht zu verstehen: * Ordnung und Zusammenschau von Einzelerkenntnissen, Aufbau des Wissens, Erfassen von Zusammenhängen; * Vermittlung von Werten, Erschließen von Wegen zu Einstellungen und Haltungen, Mut zur Erziehung; * Bereitschaft zum verantwortungsbewußten Handeln, den eigenen Weg zu suchen, das erworbene Wissen und Können in einen Zusammenhang zu fügen und Mitverantwortung zu erleben.

Eine so verstandene Orientierung weist auf die Mitte der Bildung.

Der Autor ist Sektionschef i. R. und Kurator der Stiftung Theresianum in Wien.

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