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Wie kommt man wieder zur Übersicht?

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Einem geflügelten Wort zufolge, ist die Alterskrankheit des Ökonomen die Soziologie, die des Physikers die Philosophie. Diesem Bonmot liegt eine - innerhalb und außerhalb der Wissenschaft dominierende - Auffassung zugrunde, derzufolge der Wissenschaftler ein schizophrenes Wesen sei: In einer Disziplin (und nur in dieser) sei er allwissend und von unbestechlicher Objektivität, in allen anderen Teilbereichen des Lebens, auch in allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, sei er aber ein mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten behafteter Mensch; die genaue Abgrenzung seiner Weihen wird zeitlebens durch das Ausmaß seiner Venia legendi markiert.

So bequem diese Vorstellung auch sein mag - sie hat nie gestimmt. Nicht nur die Geisteswissenschaften, auch die Naturwissenschaften waren immer wieder gekennzeichnet von in erbitterten Kämpfen ausgetragenen Lehrmeinungen, von denen selten die eine absolut richtig und alle gegnerischen absolut falsch waren; wie sehr mehrere Wahrheiten nebeneinander bestehen können, zeigt in geradezu klassischer Weise die Mutter der Wissenschaften, die Philosophie.

In Wirklichkeit ist der Unterschied bestenfalls ein gradueller: Der Wissenschaftler ist auch in seiner erlernten Disziplin Mensch, umgekehrt aber auch in allen anderen Bereichen Wissenschaftler. Auch in seiner ureigensten fachspezifischen Arbeit vermag er nicht von seinen (ihm oft gar nicht bewußten, weil kulturell bedingten und von seiner gesamten Umwelt geteilten) Vorurteilen zu ab-

„Heute muß jedes wissenschaftliche Gebiet in zunehmendem Maß als Subsystem eines größeren Systems gesehen werden.“ strahieren, anderseits betrachtet und analysiert er aber auch ihm ferner liegende Gebiete nach jenen „wissenschaftlichen“ Kriterien, die er anhand seiner Hausdisziplin anzuwenden gelernt hat.

Wenn er verlangt, daß fachfremde Personen ihn auf seinem Gebiet als kompetent erachten, d. h. seinen eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen Vertrauen schenken, muß auch ihm gestattet werden, umgekehrt wissenschaftliche Erkenntnisse von anerkannten Fachleuten aus anderen Disziplinen seinem eigenen Weltbild einzuordnen, und damit zu einem Urteilsvermögen zu kommen, das sein Spezialgebiet transzendiert.

Eine solche Revision der Zuteilung der Rolle des Wissenschaftlers in der Welt von heute und insbesondere in der von morgen ist gerade durch die großen Fortschritte der Wissenschaft selbst akut geworden. Ein Beispiel: Solange Alessandro Volta mit Froschschenkeln experimentierte, brauchte er sich über allfällige Zusammenhänge zwischen Elektrizität und anderen Bereichen nicht den Kopf zu zerbrechen - allein durch das

Ausmaß, das die

Stromerzeugung aber heute angenommen hat (und noch mehr morgen haben wird), ist sie zu einem Problem geworden, das weit über den Fachbereich des Elektrotechnikers hinausgeht, und das schon bei Überlandleitungen, Wasserkraftwerken und kalorischen Kraftwerken nur mehr in einer technologisch-ökologisch-sozialen Gesamtschau gesehen werden dürfte, von der ungelösten Kernkraftproblematik . ganz zu. schweigen, in der ein wertfreies Urteil überhauptnicht möglich ist.

Heute muß jedes wissenschaftliche Gebiet in zunehmendem Maße als Subsystem eines größeren Systems gesehen werden; eine Disziplin, die versucht, ihre traditionellen Grenzen aufrechtzuerhalten, ihr Gebiet als nach außen abgeschlossen zu betrachten und Antworten ausschließlich innerhalb des dadurch abgegrenzten Subsystems zu finden, entwickelt sich immer mehr zum bloßen Glasperlenspiel.

Die Hoffnung, die in die Teamarbeit gesetzt wurde, hat sich nur zum Teil erfüllt: Die bloße Addition des Wissens mehrerer Fachleute verschiedener Herkunft hat oft nicht die erforderliche zielführende Verbindung zustande gebracht. Auch die Aufnahme von „Systemanalytikern“ in das Team, also von Fachleuten, die in kybernetischer Methodik ausgebildet waren, hat vielfach nur eine weitere Kluft hinzugefügt, die Kluft zwischen Substanzwissenschaften und Formalwissenschaft.

Als eher fruchtbringend hat sich der Einsatz von Wissenschaftlern erwiesen, die, durch welche Zufälle immer, in zwei Disziplinen ausgebildet waren - nicht nur waren sie imstande, in pectore die erforderliche Brücke herzustellen, sondern sie hatten durch ihre Befassung mit zwei verschiedenen Gebieten auch in ungleich stärkerem Maße als andere gelernt, grenzüberschreitend, „systemisch“, zu denken, und damit auch Erkenntnisse einer dritten und vierten Disziplin leichter in ihre Arbeit zu inkorporieren.

Angesichts der unerbittlichen Be-, schränktheit des Faktors Zeit im menschlichen Leben läßt sich dieser Gedanke aber nicht dahingehend fortsetzen, daß der ideale Wissenschaftler von morgen eben ein halbes Dutzend Doktorate erwerben müsse, ehe er seine Arbeit beginnen dürfe.

Einen anderen Ausweg hat, einige Jahre vor seinem Tode, der große Soziologe Paul Lazarsfeld aufgezeigt, indem er gefordert hat, einen neuen Beruf zu forcieren, den des „Mariaging Scholar“, des organisatorisch begabten wissenschaftlichen Generalisten, der, ursprünglich von einer Disziplin ausgegangen, sich (notwendig unter Vernachlässigung seines eigenen Faches) so viel Kenntnisse in anderen Disziplinen angeeignet hat, daß er deren Problematik, Sprache und Denkweise soweit versteht, daß er zwei Aufgaben wahrnehmen kann: Ein Team von Spezialisten aktiv und mitarbeitend zu koordinieren, und die Brücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Anwendung und Durchsetzung in der Praxis herzustellen.

Angesichts der zunehmenden Komplexheit der Probleme von heute und morgen ist nicht auszuschließen, daß auch die Legitimation, von der Warte des Wissenschaftlers

“... ein Team von Spezialisten aktiv und mitarbeitend zu koordinieren und die Brücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Anwendung und Durchsetzung in der Praxis herzustellen.“ aus zu diesen Problemen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, in zunehmendem Maß von den Spezialisten auf die „Managing Scholars“ übergehen wird, insbesondere dann, wenn Spezialisten verschiedener Disziplinen, jeweils ausgehend von ihrem Paradigma, zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen gelangen. Ob Spezialist, ob Managing Scholar: Je komplexer die Problematik, desto größer allerdings die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit, Verantwortungsbewußtsein - und Demut.

(Der Verfasser ist ordentlicher Po-fessor für Statistik an der Universität Wien)

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