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Der Begriff „Interdisziplinarität”, der seit einiger Zeit in zunehmendem Maße in akademischen Kreisen der gesamten englischsprechenden Welt gebraucht wird, ist nur selten definiert. Wenn aber dieser Begriff nicht klar umrissen wird, kann das zu falscher Auslegung und Mißdeutung von neuen pädagogischen Entwicklungen Führen.

So weit ich das feststellen kann, war der amerikanische Soziologe Graham Wallas der erste, der den Gedanken interdisziplinärer Studien im Jahre I908 aufgriff. Sein Buch „The Great Society” verband Psychologie mit zeitgemäßen Problemen. In den frühen zwanziger Jahren gebrauchte Charles Mer-riam von der Universität in Chikago den Ausdruck, um den Zusammenhang von Politik und den meisten der So/ial-und Verhaltenswissenschaften zu beschreiben.

Im Jahre 1922 versuchte eine Konferenz über Sozialstudien in den USA den Begriff der Interdisziplinarität weiter zu entwickeln, anstatt sich auf Wissenschaftsforschung auf den einzelnen Wissensgebieten zu konzentrieren. Sowohl „The American Social Science Research Council” im Jahre 1923 als auch „The London Goldsmith's College” in London erkannten die Notwendigkeit, eine interdisziplinäre Bildung über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinaus zu erreichen.

Ortega y Gasset klagt im Jahre 1932 über die Barbarei der Spezialisierung, und in den vierziger Jahren erschien der Ausdruck „Interdisziplinarität” in pädagogischen Lexika. Das Technische Institut von Massachusetts baute seine Lehre und Forschung innerhalb Fünf interdisziplinarischer Gruppen auf. In den Fünfziger Jahren und in der Gegenwart wird der Terminus häufig gebraucht.

Alle, die interdisziplinäre Studien unterstützen, gehen von bestimmten Voraussetzungen aus. Sie teilen die Ansicht, daß die bestehende Art der Ausbildung nicht auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, und daß die Einengung in einzelne Disziplinen der Wissenschaft Schranken setzt. Sie sind der Ansicht, daß Universitäten überspezialisiert sind und ihnen dadurch die Beziehung zu sozialen Problemen fehlt. Vor allen Dingen nehmen sie an, daß die kapitalistische Kultur sich in einer Krise befindet, die durch die Einführung der interdisziplinären Studien überwunden werden kann. Den Menschen werde damit die Möglichkeit geboten, der Zukunft eine neue soziale Form zu geben.

Aus diesem Grunde folgern sie, daß die Universitäten eine Ausbildung planen müssen, die einer sich so schnell wandelnden Welt gerecht wird. Sie müsse dazu beitragen, Probleme zu lösen, indem sie horizontal Verbindung schafft von einer Disziplin zur anderen und sich nicht zu sehr vertikal in immer extremere Spezialisierung versteigt.

Das zur Debatte stehende Problem ist, ob das interdisziplinäre Studium der einzige oder der wünschenswerte Weg ist, Bildungserfordernisse für sozialen Wandel zu erreichen. Nur wenige Amerikaner würden heute noch die Tatsache abstreiten, daß für die Universitäten die Notwendigkeit besteht, in Verbindung mit dem Zeitgeschehen zu bleiben; aber auch in den getrennt arbeitenden Fakultäten könnte der Gegenwartsbezug erbracht werden.

Durch das Studium in einzelnen Disziplinen erhalten die Studenten das geistige Rüstzeug, um die Relevanzen ihres Fachwissens zu ihrer eigenen Person und zur Gesellschaft herzustellen. Sie sollten klare Richtlinien der Denkstrukturen und des Wissens und der zentralen Grundbegriffe der Disziplinen erlangen.

Man könnte behaupten, daß einige Disziplinen schon ihrer Natur nach interdisziplinär sind. Sie sind auch für die heutige Welt wichtig. Literatur befaßt sich mit menschlichen Gedanken und Gefühlen. Philosophie wirft essentielle und praktische Fragen auf und erörtert sie auf streng wissenschaftliche Weise. Mathematik kann wichtig zur Lösung der anstehenden Probleme sein, und die Auffassung, daß Geschichte von jeder Generation im Licht ihrer eigenen Probleme wieder neu überdacht werden muß, ist schon fast eine Binsenweisheit.

Die interdisziplinäre Sicht der Dinge ist im Grunde genommen umfassend. Sie kann oberflächlich sein und damit die wissenschaftliche Gründlichkeit gefährden. Sie mag das Ad-hoc-Lernen fördern, aber es auch all den Neurosen und Launen der verschiedenen Gruppen in und außerhalb der Universität aussetzen. Der Versuch, ein tieferes Verständnis für das menschliche Leben und die Gesellschaft zu erlangen, kann fehlschlagen. Unterscheidungsfähigkeit und Durchblick, die so wesentlich im Universitätsleben sind, werden eventuell nicht ausreichend erlernt.

Die interdisziplinären Studien haben einen Platz in der zeitgenössischen Bildung,. besonders für die Fortbildung von Wissenschaftern. Ich selbst befürchte aber, daß sie im Augenblick weithin ein Lieblingskind der Mode für die unteren Semester sind. Von vielen werden sie als die unvermeidbare Revolution in der Erziehung angesehen.

'Mir erscheint Interdisziplinarität als ein Trend der zwanziger Jahre, der heute wieder auflebt und den Wert der überlieferten Disziplinen gefährdet, ebenso wie die schöpferischen Neuerungen, nach denen die Studenten verlangen. Interdisziplinäre Studien sind nur wertvoll, wenn sie Überliefertes vervollständigen. Tatsächlich sind disziplinare oder interdisziplinäre Einstellung keine unüberbrückbaren Gegensätze, sondern gedeihen am besten in gegenseitiger Ergänzung.

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