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Prüfen und Beurteilen

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Österreichs Akademie der Wissenschaften hat kürzlich drei Arbeiten zum Thema Wissenschaft und Ethik prämiert und veröffentlicht. Hier redigierte Auszüge aus einer davon.

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Österreichs Akademie der Wissenschaften hat kürzlich drei Arbeiten zum Thema Wissenschaft und Ethik prämiert und veröffentlicht. Hier redigierte Auszüge aus einer davon.

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Ein grundlegendes Problem der wissenschaftlichen Arbeit ist in der Frage der Qualität der theoretischen Ergebnisse zu sehen, die ja darüber bestimmt, ob und in welchem Ausmaß den gewonnenen

Aussagen der Charakter von Richtigkeit oder Wahrheit zugesprochen werden kann. Meiner Einschätzung nach ist dies sogar das Zentralproblem der Wissenschaft. Es durchzieht alle Bereiche und Arten der wissenschaftlichen Tätigkeit und betrifft empirische, hermeneutische und formalistische Methoden in ähnlieher Weise. Mit Qualitätsproblemen ist der Wissenschaftler bei der Beurteilung der Leistungen von Studenten genau so konfrontiert wie bei der Bewertung der Arbeiten von Wissenschaftlern, seiner eigenen und der seiner Kollegen ...

Auf die im universitären Alltag realisierte Praxis des Uberprüfens kognitiver Inhalte wirkt sich der gravierende Unterschied zwischen Faktenwissen und Verständniswissen aus, der daher genauere Beachtung verdient.

Faktenwissen hat eine starke Affinität zum Quantitativen, die Leistung wird im wesentlichen durch die Menge reproduzierter Inhalte bestimmt. Verständnis hingegen hat qualitativen Charakter und es bedarf einer besonderen Struktur der gestellten Aufgabe, um das Ausmaß der inneren Verarbeitung von der bloß verbalen Reproduktion abzugrenzen. Die Tatsache, daß Faktenwissen wesentlich leichter und eindeutiger überprüft werden kann als Verständnis, scheint mir bedenkliche Auswirkungen auch an der Universität zu haben...

Ob in der Mechanik Formeln für die Berechnung von Statik-Aufgaben sinnvoll angewendet werden können, ob die Bedingungen für die Anwendung eines bestimmten statistischen Tests verstanden und nicht bloß „mechanisch” reproduziert wurden, kann wahrscheinlich eindeutiger überprüft werden als Verständnis in Bereichen, in denen es um Sinn, Bedeutung, um Fragen nach Zielen und Werten und ähnliches geht.

Daraus ist zu folgern, daß auf diesem Gebiet besondere Anstrengungen in wissenschaftsdidaktischer Sicht gemacht werden sollten. Es wäre in hohem Maße kurzsichtig, die Ursachen für Mängel in Ubersicht und Verständnis nur auf der Seite der Studierenden suchen zu wollen... Das Problem ist zumindest zum Teil an das didaktische Konzept der Lehrveranstaltung selbst zurückverwiesen. Es beinhaltet die Aufgabe, für das Verständnis exemplarische Anwendungsgebiete so darzubieten, daß der* Transfer auf andere Fälle dem Studierenden ermöglicht wird. Denn der Weg, die in der Lehrveranstaltung behandelten Beispiele auch in der Prüfung abzuverlangen, scheidet nach meiner Erfahrung aus, da in diesem Fall die Anwendungen genau so wie vorher die Theorien bloß verbal gelernt werden können...

Nur Reproduktion?

Es gibt den konkreten Fall, daß eine studentische Arbeit, die von einem Begutachter die Beurteilung „gut” zugesprochen erhielt, von einem anderen als eindeutig negativ charakterisiert wurde. Da es sich dabei meines Wissens nicht um einen Einzelfall handelt, muß dieser Zustand zunächst vom Standpunkt der Gerechtigkeit den Studierenden gegenüber als inakzeptabel eingeschätzt werden. Darüber hinaus sollte auch die Auswirkung auf die Position der Wissenschaft in der Öffentlichkeit gesehen werden. Man dürfte gerade bei derartigen Problemen” nicht übersehen, daß die Wissenschaft der Bereich der Gesellschaft ist, der die Rationalität zu seinem obersten Handlungsprinzip erklärt hat. Zur Bearbeitung des Fragenkomplexes Beurteilung wären auf einzelne Fachgebiete bezogene, aber auch interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen einzurichten, die modellhaft Kriterien für die Beurteilung von theoretischen Arbeiten zu formulieren hätten...

Das Problem der Beurteilung zeigt, auf die Situation der Studierenden hin betrachtet, noch eine besondere Facette. Wenn ein Mensch Schwierigkeiten mit dem Verständnis bestimmter kognitiver Inhalte hat, dann kann er diesen Mangel eigentlich gar nicht richtig begreifen, weil für das Einsehen der Notwendigkeit des Verständnisses schon ein bestimmtes Ausmaß eben dieses Verständnisses vorhanden sein müßte. Daraus folgt fast zwingend, daß solche Studenten die an sie gestellten Forderungen als ungerechtfertigte Härten, als Schikanen empfinden, da sie ja deren Berechtigung nicht einsehen. Verschärft wird dieses Problem dadurch, daß nicht wenige Universitätslehrer die Tendenz zur bloß verbalen Reproduktion in den Studierenden verstärken, indem sie die Beurteilung im wesentlichen von der wörtlich genauen Wiedergabe sprachlicher Formulierungen abhängig machen. *

Theorie und Praxis

Es mag günstig sein, an einem Beispiel zu konkretisieren, was mit dem Begriff „Verständnis” in diesem Zusammenhang gemeint ist. Ich möchte dazu die schon erwähnte Unterscheidung zwischen umgangssprachlich gestellter Frage und theoretischer Fragestellung benutzen. Eine naheliegende Frage aus der Praxis lautet z. B.: „Wie muß ich mich als Lehrer verhalten, damit ich mit meinen Schülern keine disziplinaren Probleme habe?” Diese Frage ist — abgesehen von der Notwendigkeit, sie auf das zugrunde liegende Zielverständnis hin zu problema-tisieren — wissenschaftlich nicht beantwortet. Die Theorien zum Lehrerverhalten geben Informationen über Voraussetzungen und Auswirkungen von Lehrerverhalten, aber sie können keine unmittelbare Handlungsanweisungen geben, was auch mit der Komplexität und Variabilität der jeweiligen konkreten „Felder”, in denen Unterricht abläuft, zusammenhangt.

Eine beantwortbare Fragestellung lautet etwa: „Was wissen wir über die Vorstellungen und Wünsche von Schülern an ihre Leibeserzieher?” Dazu gibt es methodisch einwandfrei gewonnene Informationen. Diese können und sollen in die Reflexion des Lehrers über seine Tätigkeit eingehen, können ihn aber nicht der Notwendigkeit eben dieser Reflexion entheben.

Es ist bedrückend wahrzunehmen, daß ein beachtlicher Teil der Absolventen die Universität verläßt, ohne derartige für das Verhältnis von Theorie und Praxis wesentliche Grundfragen ausreichend verstanden zu haben. Diese Studenten lehnen in der Regel auch „die Theorie” völlig ab, weil sie nur rezeptartige „Unterstützung” der Praxis zu akzeptieren bereit sind.

Der Autor ist ordentlicher Professor am Institut für Sportwissenschaften der Universität Wien. Entnommen dem Buch: DIE ROLLE DES GEWISSENS UND DER PERSONLICHEN VERANTWORTUNG IN DER ARBEIT DES WISSENSCHAFTLERS. Von Heide Narnhofer, Eva Schmetterer, Raimund Sobotka. Verlag der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1985,96 Seiten.

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