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Nur ein Rollenspiel ?

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Welche Aufbruchstimmung herrschte doch in den Sozialwissenschaften der sechziger Jahre! Der Computer ermöglichte bisher unvorstellbar aufwendige Berechnungen mit neuen mathematischen Verfahren: Varianz-, Regressions-, Pfadanalyse, lineare Programmierung, Input-Out-put...

In allen Bereichen begann man statistisches Material zu erheben. Nicht nur die Wirtschaftsstatistiken wurden immer umfangreicher. Möglichst viele Bereiche versuchte man mit Zahlen zu erfassen: Meinungen, Gesundheitszustand, Sexualverhalten...

All das ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber ist es unbedenklich, wenn wir heute mit einer „laufenden, allseitigen und vollständigen Information von jedermann über jedermann” konfrontiert sind?

Dies ist eine der grundlegenden Fragen, die der deutsche Soziologe Friedrich Tenbruck in seinem wichtigen Buch „Die unbewältig-ten Sozial Wissenschaften” (Sty-ria, Graz 1984) aufwirft. Sein Anliegen: Es gilt die Grenzen der Sozialwissenschaften ebenso zu erkennen wie die Ideologie, die sie häufig transportieren.

Einige seiner Thesen: Die Soziologie versuche Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens von Gesellschaften zu erkennen. Sie begünstige damit die Tendenz, diesen Vorrang vor der Person einzuräumen. Die Gesellschaft werde somit zur eigentlichen Wirklichkeit und der Mensch zum Sozialwesen degradiert: „Die Abschaffung des Menschen” heißt dementsprechend der Untertitel des Buches.

Die vielfältige Wirklichkeit werde in gefährlicher Weise vereinfacht. Aus Menschen würden Merkmalsträger: Männer - Frauen, Arbeiter — Bourgeois, Gesunde-Behinderte usw... Aus vielfältigen Beziehungen in Ehe, Familie und Beruf würden Rollen in künstlichen Gebilden: Klassen und Randgruppen seien das Ergebnis theoretischer Überlegungen, nicht erfahrener Wirklichkeit.

Ein weiterer Aspekt: Die Wissenschaft erfasse nur das Allgemeine, das von Mensch zu Mensch Vergleichbare, also das, was nach außen dringt. Verborgen bleibe ihr die Innerlichkeit des Menschen, sein persönliches Erfahren, Sinnfragen. Eine Welt, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltet wird, sei daher zwangsläufig einseitig. Sie habe eine Unterdrückung des Besonderen zur Folge.

Um diesem Mangel abzuhelfen, versuche man, immer tiefer in den Menschen hineinzuleuchten. Die Privatsphäre des einzelnen werde richtiggehend ausgeschaltet. Menschen gäben bei Befragungen Auskunft über Intimitäten, die andernfalls besonderes Vertrauen zum Gesprächspartner erforderten. Typisch dafür Seien Befragungen über Sexualverhalten.

Auch die Veröffentlichung solcher Ergebnisse sei durchaus nicht neutral. Jeder Leser konfrontiere ja die eigene Haltung mit den Ergebnissen. Und Mehrheitsmeinungen würden nur allzu leicht als Norm mißverstanden. Vielfach werde nämlich das, was viele tun, als der „natürliche” gesellschaftliche Zustand gedeutet.

Man erkennt: Auf der Suche nach allgemeinen Aussagen werden die Besonderheiten von Zeit und Raum in den Hintergrund gedrängt: Man vergleicht etwa Südseeinsulaner, Eskimos und Westeuropäer — und vielleicht auch noch die alten Griechen, um allgemeine Mechanismen zu entdek-ken. Das jeweils Besondere wird dabei nur allzu leicht als Schnörksel betrachtet.

Das Ergebnis ist dann vielfach: Entdeckung trivialer Allgemeinheiten, wie etwa, daß Mann und Frau überwiegend als Paar leben, und Herunterspielen der eigenen kulturellen Besonderheiten: „Oben ohne” in Afrika wird zum Argument für Badesitten in Europa.

Dieses Absehen von Zeit, Raum und Person hat unser Selbstverständnis geändert: Wir sind ge-schichts-, heimat-, kultur- und gesichtslos geworden.

Die Grenzen von Scham, Sitte und Privatraum seien laufend zurückgedrängt worden, stellt Tenbruck fest. Der Mensch habe die Pflicht, den Tatsachen in die Augen zu sehen, wird argumentiert. Dahinter stehe die Verheißung, „daß der so aus Unwissenheit befreite und vernünftige Mensch glücklicher in einer transparenten Gesellschaft leben würde” (S. 213).

Vielfach wird Wissenschaft aus dieser Weltsicht betrieben, ohne daß dies zur Sprache kommt. Oft berufen sich Arbeiten auf ihre unvoreingenommene Rationalität, hinterfragen und verurteilen die Tabus und Selbstverständlichkeiten unserer Kultur, verbergen aber, daß sie selbst Träger einer Weltanschauung sind. Für viele ist die Soziologie daher zu einer Art „innerweltlichen Daseinsauslegung” - einem unreflektierten Glauben geworden.

Was man daraus lernen kann? Vorsicht im Umgang mit den laufend auf uns niederprasselnden Daten! Vorsicht mit den damit verbundenen Interpretationen! Nicht nur wissenschaftlichen Informationen sollten wir unser Weltbild verdanken, sondern auch persönlichen Erfahrungen trauen.

Damit Wissenschaft nicht zur Heilslehre degeneriert, sollten sowohl Produzenten als auch Konsumenten von Wissenschaft kritischer werden.

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