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Wissenschaftler und Prophet

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Spanns Lehren standen vielfach in scharfem Gegensatz zu den zu seiner Zeit herrschenden Lehrrichtungen, besonders, da mit dem Ganzheitsgedanken die Ablehnung der Ursächlichkeit in den Geisteswissenschaften verbunden ist. Unter Berufung auf Plato und Aristoteles, Meister Eckehart und Thomas von Aquino, die Philosophie des deutschen Idealismus und die Gesellschaftslehre der Romantik, wandte sich Spann gegen Empirismus, Positivismus und Materialismus in der Philosophie, gegen Atomismus, Individualismus und Kollektivismus in den Sozialwissenschaften. Da sein nationalökonomisches und soziologisches Lehrgebäude weithin die Grundlage für die Forderung nach einer Neugestaltung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft bot, war sein Werk — teilweise mißverstanden — politisch umkämpft; Spann selbst verfolgte — als Erzieher, Sozialwissenschaftler und Philosoph, niemals aber als Politiker — in seiner Ganzheitslehre primär philosophische und verfahrenstheoretische Absichten. Erst daraus ergaben sich auch neue Leitbilder für die Gestaltung der gesellschaftlichen Welt.

Ferdinand von Degenfeld-Schonburg sagte in dem erwähnten Nachruf vor der Akademie der Wissenschaften: „Man wird sich nicht wundern, wenn solche Auffassungen — er kämpfte gegen Individualismus und Marxismus, gegen wertfreie Wissenschaft und gegen die „ursächliche Begriffsweise“ — auch Gegnerschaft, namentlich aus dem Kreise der herrschenden Lehre finden. Man wird aber Spanns Universalismus den Charakter einer großangelegten und von hoher Warte aus gesehenen Schau nicht absprechen können. Dies wird auch der anerkennen müssen, der Spanns Standpunkt nicht zu teilen vermag. Es ist indessen wohl zuzugeben, daß bei Spann speziell in der Nationalökonomie durch das Hervortreten der Betrachtung des Sollens die Untersuchung der Tatsachen und der unter gewissen Voraussetzungen zu erwartenden Wirklichkeit verdrängt wurde und daß seine heftige Polemik gegen den überwiegenden Teil der früher und heute herrschenden Lehren unreife Menschen zu schiefen Schlüssen verleiten könnte. Spann hat gewiß als Wissenschaftler Bedeutendes geleistet. Er war aber nicht nur Wissenschaftler, er war

auch ein Prophet. Soweit die wissenschaftliche Mitwelt ihm nicht als Propheten folgte, war sie leicht geneigt, seine hervorragenden .wissenschaftlichen Leistungen zu übersehen. Eine spätere Zeit wird sie wohl herauszufinden wissen3.“

Was bleibt?

Diese „spätere Zeit“, von welcher der Nachruf von Degenfeld spricht, mag wohl noch nicht da sein, aber das kommt auf den Standpunkt an, von dem aus die Frage, was vom Werke Othmar Spanns bleibt, beantwortet wird. Nimmt man den Standpunkt des Verfassers ein, so antwortet er: Es bleibt alles. Aber es ist manches in den Hintergrund getreten, teils, weil es geschichtlich bedingt war, teils, weil es erst später wieder Bedeutung erlangen wird; zum Teil aber auch deshalb, weil der Universalismus sich notwendigerweise weiterentwickelt hat; zum Teil wiederum deswegen, weil vieles gegenwärtig selbstverständlicher Teil der Wissenschaft und auch der Praxis geworden ist, zum Beispiel der wirtschaftspolitischen Praxis von heute. Man hat genug von Spanns Begriffswerk übernommen, ohne darum zu wissen oder ohne sich zu dieser Quelle zu bekennen; dabei scheint es manchmal, als ob die Wirksamkeit ganzheitlichen Gedankengutes außerhalb des Bereiches der Sozialwissenschaften stärker wäre als innerhalb desselben. Aber vielleicht sind an diesem Eindruck auch lediglich die gegenwärtigen Modeströmungen der empirisch-statistischen Feldsoziologie und der mathematisch-ökono-metrischen Nationalökonomie schuld, deren Ergebnisse übrigens vielfach die ganzheitlichen Erkenntnisse bestätigen, ist doch gerade Spann selbst von der Statistik hergekommen.

Wenn aber bereits heute, also fünfzehn Jahre nach dem Tode Spanns, Zeitgemäßes und die drängenden Fragen der Zeit Beantwortendes aus dem Werke des Dahingegangenen berührt werden sollen, so kann das wohl nur an einigen wenigen Beispielen geschehen:

Da ist in der Wirtschaftstheorie etwa die Frage, wie quantifizierend-mathematische und leistungsmäßige Betrachtung der Wirtschaft nebeneinander bestehen oder gegeneinander abgegrenzt werden könnten. Gerade darüber gibt die universalistische Nationalökonomie die Ant-

wort. Die Leistungsanalyse gibt den Kanon dafür, in welcher Weise wirtschaftliches Geschehen — durch Vermittlungen hindurch — in Quantitäten seinen Niederschlag findet, die Wirtschaft zwar eine Rechnung des Unrechenbaren sei, aber das Rechnen so weit vorgetrieben werden muß als möglich. Die modernen Verfahren der Input-Output-Analyse arbeiten vielfach mit geistigen Begriffen, wie jenen der Entsprechung, der Gegenseitigkeit und des Zusammenhanges aller Leistungen. Die Er-.

kenntnis des Vorranges der Leistungsanalyse, die Einsicht in den primär qualitativen Charakter der Leistungen und in die Unquantifl-zierbarkeit vieler, ja gerade entscheidender Leistungen bewahrten die ganzheitliche Sicht der Wirtschaft allerdings vor einer übertriebenen Zahlengläubigkeit und vor der Gefahr, zu meinen, Persönlichkeit und unternehmerische Initiative ließen sich schließlich durch elektronische Rechenmaschinen ersetzen.

In der Wirtschaftspolitik ist ja wohl die Wirklichkeitsfremdheit des rein liberalen Modells ebenso wie jenes des radikal kollektivistischen Zentralismus längst erkannt worden. Die ganzheitlich begründete Wirtschaftspolitik als Wissenschaft vermag dem gegenüber entscheidende Denk- und Schlüsselbegriffe für eine solche Wirtschaftspolitik der Mitte zu liefern, daneben aber auch einen an der strengen Systematik der Theorie orientierten Katalog der wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Diese führen übrigens hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Praxis zu den gleichen Leitbildern und Forderungen, wie sie von vielen, ja von der Mehrheit der neoliberalen Theoretiker, aufgestellt und erhoben werden: zum Beispiel schonende Berücksichtigung der menschlichen und der Naturgrundlagen der Wirtschaft, Wirtschaftsausbau unterentwickelter Gebiete, Auflockerung der Ballungsgebiete durch Dezentralisation, Förderung der Klein- und Mittelbetriebe sowie der mittelständischen Wirtschaft überhaupt, wettbewerbsneutrale Besteuerung, sorgsame Beobachtung und Dosierung der Konzentrationsvorgänge, Erkenntnis und Betonung der Vielschichtigkeit auch der modernen Wirtschaft und Wahrung der Arteigenheit von Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe,

also von primärer, sekundärer und tertiärer Produktion und dergleichen mehr. Der Verfasser hat in seiner „Wirtschaftspolitik“ versucht, die wirtschaftspolitischen Folgerungen aus der universalistischen Wirtschaftslehre abzuleiten4.

„Der wahre Staat“

Am stärksten wurden die gesellschaftswissenschaftlichen, insbeson-lers die gesellschaftspolitischen Lehren Spanns angegriffen, darunter vor allem sein Buch „Der wahre Staat1“, das allerdings ganz und gar aus den Problemen der damaligen Zeit und aus der Zeitlage heraus verstanden werden muß. Aber gerade aus der Fülle der Erkenntnisse der universalistischen Gesellschafts- und Staatslehre sind heute

besonders zeitgemäß: der verfahrensmäßige Blickpunkt, die Erkenntnis vom dezentralistischen Grundgefüge der Gesellschaft, wonach diese eine pluralistische, nicht aber eine totalitäre Einheit dar-stellti die Ablehnung der Lehre vom Staat als der einzigen Organisation des Lebens, wodurch der gesellschaftspolitische Zentralismus überwunden und die Selbstverwaltung der einzelnen gesellschaftlichen Lebenskreise begründet wird.

Mögliche Mißverständnisse — gerade hinsichtlich des Buches „Der wahre Staat“ — könnten aufkommen hinsichtlich der Kritik der Demokratie, der ständischen Ordnung und der Lehre vom staatstragenden Stand. Aber diese Mißverständnisse sind unberechtigt: Es handelt sich um die Kritik einer atomistischen und individualistischen Demokratie mit ihren Gefahren des Umschlagens in den Totalitarismus, in die Verkennung der Rechte der Minderheiten sowie in einen radikalen Zentralismus.

Was die ständische Ordnung anlangt, hat sich Spann immer gegen den sogenannten „Ständestaat“ ausgesprochen, der etwa das politische Parlament durch eine Versammlung berufständischer Vertreter ersetzen zu können glaubte und auf diese Weise aus hölzernen Balken eine eiserne Brücke konstruieren möchte. Es geht vielmehr um die heute so unendlich bedeutsame Frage des Verhältnisses zwischen Parteien und Verbänden, Staat und Interessenvertretungen, politischer Hoheit und Selbstverwaltung, besonders aber um die erforderliche Untermauerung der politischen Demokratie durch eine ständische Demokratie bei selbstverständlichem Vorrang des Politischen. Es ist bezeichnend für die zahllosen hier obwaltenden Miß-

verständnisse, daß Spann sowohl Verabsolutierung des Staates wie Ideologisierung der Verbände vorgeworfen wurde, obwohl bei richtiger Anwendung der ganzheitlichen Kategorien gerade beides vermieden werden kann6.

Mit dem Begriff des „staatstragenden Standes“ wird die in der Gesellschafts- und Staatslehre seit Anbeginn eine bedeutsame Frage der sogenannten Eliten aufgeworfen. Ich glaube, daß ein guter Demokrat der Meinung sein kann, und befinde mich mit diesem Glauben in der Gesellschaft zahlreicher unbe-zweifelbar guter Demokraten, daß gerade die Demokratie der Eliten bedarf und um deren Entstehung durch entsprechende Bildung und Staatserziehung ringen muß. Gerade die industrielle Gesellschaft und der ihr zugeordnete moderne Staat muß auf einer Bildungsgesellschaft aufruhen und damit auf einer Leistungselite. Das bedeutet in keiner Weise die Beanspruchung größerer Rechte, vielmehr einzig und allein die Forderung nach größeren Pflichten: Wie sollten auch die Parteien und Verbände von heute ohne solche leitende Schichten bestehen? Das schließt in keiner Weise eine demokratische Kontrolle von deren Auswahl, Aufstieg und Tätigkeit aus.

Was die Verfahrensfragen anlangt, so werden sie immer mehr zur Grundentscheidung der Wissenschaft von heute. Das ganzheitliche Verfahren stellt — die Exaltationen des Positivismus und Historismus vermeidend — ein nichtempiristisches Verfahren für die Einzelwissenschaften dar. Darüber hinaus erwies es sich auch für die Philosophie als fruchtbar. Es ist ein Verfahren für den Bereich des Endlichen, bietet aber hier einen reicheren Kosmos von Kategorien als lediglich jene für den Empirismus bestimmende der Ursächlichkeit; es vermag aber für gewisse Schichten des Seins durchaus auch eine Betrachtung nach den Grundsätzen mathematisch-statistischer Gesetzmäßigkeit („als ob“) anzuerkennen. Keineswegs wird eine realistische Beschreibung ausgeschlossen. Im Gegenteil: Dem anschaulich verfahrenden Forscher wird die Fülle der Empirie und der Geschichte durch die Verfahrensweise des Universalismus erschlossen und in besonderer Weise durchleuchtet. Der Universalismus bleibt aber nicht im Endlichen stecken, sondern zeigt das Endliche allenthalben an das Überendliche angeknüpft.

Aus dem Bereiche des philosophischen Schaffens von Spann, das die zweite Hälfte seines Lebens ausfüllte, seien nur zwei Beispiele für dessen Bedeutung in der Gegenwart angeführt: In seiner „Naturphilosophie7“ unternimmt Spann den Versuch, die ganzheitlichen Kategorien auch für den Bereich der anorganischen Natur zu erproben. Der Betreuer der zweiten Auflage dieses Werkes in der Gesamtausgabe, der Generalsekretär der Wiener Katholischen Akademie, Ulrich Schöndorfer, sagt am Schlüsse seines Nachwortes dazu: „Die physikalische Entwicklung seit 1937 rechtfertigte die Grundanschauungen der Naturphilosophie Othmar Spanns in umfassenderer Weise, als der Denker dies zu erhoffen wagte. So ist heute seine Naturphilosophie zeitgemäßer als in den Jahren ihres Entstehens und bietet der naturphilosophischen Arbeit unserer Zeit die fruchtbare Grundlage vieler neuerer Zielsetzungen und Aufgaben8.“

Noch überraschender aber ist die Bestätigung, die das Grundanliegen der „Religionsphilosophie“ Spanns* durch die heutigen Vorgänge im Schöße der großen Weltreligionen, besonders aber durch die ökumenischen Bestrebungen der christlichen Kirchen erfährt. Die Religionsphilosophie Spanns hat die Ökumene in wahrhaft prophetischer Weise vorweggenommen.

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