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Othmar Spann

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„Nur das Geschaute hat Wahrheit — alles Ausgedachte ist gebrechlich!“ Dieses Bekenntnis, wohl ein Schlüssel, schrieb mir Othmar Spann ins Widmungsexemplar seiner 1924 erschienenen „Kategorienlehre“. Es kennzeichnet, und nicht nur erkenntnistheoretisch, in tragödien-hafter, straffer Wendung, den am 8. Juli, dieses Jahres Verstorbenen, sein Wesen, seine Wissenschaft, seine Professur für Nationalökonomie und Soziologie an der Wiener Universität von 1919 bis 1938.

Spanns Werk begann mit einer statistischen Untersuchung über die uneheliche Bevölkerung in Frankfurt am Main 1905; und es endete — auch im äußeren Ablauf herzverwandt der in Theologie, Theosophie ausmündenden Spälromantik der Fichte, Müller, Baader, Schlegel — mit seiner „Religionsphilosophie“ in Wien 1947. Dazwischen liegt, in vielen Auflagen, ein Dutzend stattlicher Bände, zuerst auf dem Gebiet der Nationalökonomie, dann der Soziologie, schließlich der Philosophie.

Unschwer ist dennoch die Summe dieses Riesenwerkes zu ziehen. Sie ist eine geheime Metaphysik, die um einen Satz des Aristoteles kreist, um den berühmten Satz in der Politik 1/2, 1253 a, 20, daß „das Ganze vor den Teilen sei“, was im logischen Sinn richtig, allerdings in diesem Sinne sachleer ist, was aber als ontologisches Prinzip bei Spann eine alles überbordende Bedeutung erlangte und zu jener Kategorientafel sich verdichtete, womit sämtliche Wirklichkeiten, die geistigen und die gesellschaftlichen, begriffen wurden.

Freilich war schon längst eine Methode in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften fällig, die der isolierenden, „ursächlich-oberflächlichen“ Betrachtung der Dinge eine totale, eine „sinn- und zweckhafte“, gegenüberstellte. Und diese Großtat leistete Spann.

Er zerschlug den „Individualismus“, die „Einzelheitslehre“, die „Einzelheitsbetrachtung“, dascartesianische Maschinenbild von Welt und Geist. Er verwies, und seine Sprache erhob sich zu missionarischer Wucht, auf die göttliche, „ganzheitliche“ Eingeschwungenheit aller Menschen und Dinge. Er verwies auf ihre absolute, vorgegebene Sinnhaftigkeit. Er zeigte dies, und das Beispiel ist berühmt geworden, am Nibelungenlied, das nicht durch blindes Ausschütten von Millionen von Buchstaben entstanden sein könne, wie auch nicht die Welt durch ein Ausschütten von Milliarden von Atomen. Nichts sei so entstanden, wie dies als Ernst der Geschichte seit der Renaissance geglaubt worden sei. Auch nicht das Gesellschaftliche, seine „Teilganzen“, Religion, Kunst, Wissenschaft, Staat, Wirtschaft. Sie seien keine „Zufälligkeiten“; sie seien „Zweckmäßigkeiten“, „Sinngehalte“, „Ausgliederungen von Ganzheiten“!

Und mit dieser Methode, in dieser Zusammenschau, in diesem religiösen Eifer, entwarf Spann sein System, seine „Politik“, seine „Soziologie“.

Die „Politik“ entwarf er vorerst negativ in seiner Kritik, in seiner überschäumenden Kritik des Zeitgeistes, des Liberalismus und der Demokratie, des Marxismus und der sozialistischen Bewegung. Dagegen stellte er, nicht ohne Fanatismus, seinen „Wahren Staat“, seinen „Ständestaat“. Er artikulierte vor gefüllten Hörsälen die praktische Möglichkeit einer „ständischen Erneuerung“. Und er fand hierin Gefolgschaft, Zuruf und Zulauf, weit über Österreich hinaus; er fand sie bei der bürgerlichen Frontkämpfergeneration, bei der völkischen Akademikerschaft, nicht zuletzt bei jenen Sozialkatholiken, die, ihres Parteilebens und ihrer Mittestellung zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ müde, im Anschluß an die berufständischen Traditionen der Vogelsang-Schule einen Ausweg suchten und in Spann ihren Anwalt, einen Nachfahren Vogelsangs, gefunden zu haben vermeinten. Notwendig wurden sie aber alle enttäuscht.

Spann war kein „Politiker“. Spann war Denker. Ihm war die „Politik“ Gegenstand der Untersuchung. Wohl war sein ständischer Entwurf Impuls, und kein geringer, in den Sozialreformen Mitteleuropas der zwanziger, der dreißiger Jahre. Er war aber nicht ihr „politischer Kopf“, nicht ihr „Propagandist“, schon gar nicht ihr „Manager“. Sein „Wahrer Staat“ war in der Tat nur ein „platonischer Staat“, doch auch eine Wissenschaft, mit allen Gefahren des platonischen Anspruchs auf Herrschaft eines „politischen Standes“! Daß Spann freilich dadurch und durch seine unpsychologische Kritik der Demokratie und der liberalen Freiheitsrechte obendrein totalitäre Bestrebungen, jene unheilvollen Absichten, die Gesellschaft zu regimentieren, gerade nicht schwächte, ist sicher. Ebenso sicher aber ist, daß er zu den neuen Mäditen sich eher distanzierte und von ihnen keine ideologische Genugtuung, geschweige denn einen Vorteil hatte. Der Nationalsozialismus warf Spann 1938 ins Gefängnis ...

Die Methode der „Ganzheit“ führte aber Spann vor allem wissenschaftlich zu neuen Aspekten. Sie führte ihn, was ihn zum Schöpfer einer neuen Soziologie machte, zu einer Hypostasierung des Sozialen. In diesem Punkt, dem Zenit seines Schaffens, fand allerdings Spann nachhaltigsten Widerstand, auch von katholischer Seite.

Spann lehrte nämlich die Erstwirklichkeit der Gesellschaft und die Zweitwirklichkeit des Mensdien. Mensch-Sein war ihm bestand- und wesenhaft Glied-Sein, Teil-Sein am „Ganzen“ der Gesellschaft, ein Sein im anderen, kein geistiges

Selbst-Sein. Und Mensch-Sein war ihm genau so ein Glied- und Teil-Sein wie das Sein des Blattes am Baum, des Kieselsteines im Geröll, des Fingers am Körper. Daß aber biologisch, mineralogisch, in der Ordnung der Natur, das Glied, der Teil, zum „Ganzen“, zum Baum, zum Geröll, zum Körper, sich grundsätzlich a n-d e r s verhält als der Mensch, der in der Ordnung der Freiheit steht, zum „Ganzen“, zur Gesellschaft, war und blieb Spann schlechthin fremd. „Ganzheit“ war ihm „Ganzheit“, und auf allen Gebieten, geistes- oder naturwissenschaftlicher Art, auch gleichen Gefüges. Anderes anzunehmen, verbot ihm der monistische Charakterzug seines Denkens,

Wohl gab Spann damit der umstrittenen Soziologie einen handfesten „Gegenstand“, eben die Gesellschaft als arteigene, geistige „Ganzheit“ und „Wesenheit“, als ein „selbständiges Reales“, worin die Einzelnen lebendig scheinen. Doch vollzog sich d:eser Schöpfungsgang der Gesellschaft auf Kosten der Einzelnen, ihrer Persönlichkeit. Spann fühlte es auch. Er schrieb anhangsweise seine per-sonalistisch beschiedene Lehre von der „Abgeschiedenheil“. Und nur auf solchen Umwegen vermochte Spann die Geist-Persönlichkeit des Menschen halbwegs aus seinem Soziologismus herauszuhalten. Und Spann, der Vater der nicht-empiristischen Soziologie unserer Tage, geriet — es ist dies eine Parallele dogmengeschichtlich packendster Art — in die Nähe des August Comte, des „Vaters“ der empiristischen Soziologie, der auch nur den einzelnen als bloße Abstraktion, die Gesellschaft aber als ein „Concre-tum“, als die eigentliche Wirklichkeit definierte! Notwendig widerrprach schon damals die christliche Soziologie, für welche die Gesellschaft — ein Akzidenz, und der einzelne — Substanz, personale Hoheit und unmittelbarer Geistträger als Ebenbild Gottes ist.

Und Spann schritt weiter. Seine „Ganzheit“, eben jener rationale Begriff, womit er das vorherrschende Gravitationsgesetz, die naturwissenschaftliche Betrachtung, zunächst in seiner Wissenschaft mit Recht anschlug, wurde bald mehr als Methode und soziale Metaphysik. „Ganzheit“ wurde gleichsam Gebet, ein neuer Name für Geist und Gott. Soziologie löste sich bedenklich, weil unvermittelt, in Theologie, in eine neue Theologie.

Fraglos wurzelte Spann, sein erstes Sinnen und Sorgen, im Religiösen. Hier fand er seinen Durchmesser durch die Dinge. Religiöse Fragen holte er mit Vorliebe, mit johanneischer Inbrunst, in den Bereich seiner Lehrkanzel, wie es seit der Säkularisierung des Universitätslebens, auf den weltlichen Fakultäten, wohl selten war. Er sprach von Gott und Unsterb lichkeit, von Mystik und Theologik, vom Heiligen und Gnadenhaften. Und er sprach eindringlich, einhämmernd und mit flammenden Augen und nicht selten schmerz- und gebresthaften, ja gequälten Gebärden, die wie drohende Lanzen seine Aussagen umstellten.

Trotzdem gab es Bitternis, Zerwürfnis, gerade bei seinen religiös intensivsten Hörern. „Ganzheit“, letzte, oberste, alle „Ganzheiten“ als „Glieder“ ausgliedernde „Ganzheit“, die am Ende Spann nicht „Ganzheit“, sondern „oberste Mitte“, „Urmitte“, nannte, entwich doch nur in dieser Umbenennung, in voce, der pan-theistischen Konsequenz, die aber, zumal Ganzheit und Glied ein notwendiges Begriffspaar ist, sich in re einstellen mußte bei der Frage, ob der Satz, der Hauptsatz seiner Kategorienlehre: „Ganzheit fordert Mitte, Gliederbau von Ganzheiten Urmitte, Gottheit“, umkehrbar sei oder nicht?

Zudem verkannte Spann, vom Hegel-Erlebnis verlockt, den gerade für die wissenschaftliche Forschung notwendigen Seins- und Erkenntnis-Dualismus der christlichen Theologie und Kirche. Er übersah ihren wesenhaften Unterschied von Natur und Uber-Natur, von Vernunft und Offenbarung. Antithetisch einte Spann beide; im Begriff der Intuition, im Begriff der Ganzheit.

Von hier aus ist auch die Gleichsetzung aller Religionen anzusehen, die Spann in seinem Alterswerk, in seinem Begriff vom Religionserlebnis als einem von grundsätzlich einerlei Art, bei Abweisung definitiver Religionserkenntnis, vollzog. Brach durch diese Bekleidung des Religiösen etwa Schleiermachers Ellenbogen durch: „Wahr ist alle Religion und keine“? An diesem Indifferentismus scheint Spann nicht ganz festgehalten zu haben. Ihm ist die vollendetste Form der Religion doch das Christentum! Freilich wird diese Einsicht wieder von der Note begleitet, daß wir das „Wesentliche“ des Christentums „nicht eigentlich, wie das so oft geschieht, in der Person seines Stifters finden können ..

Othmar Spann hatte, um in seiner Sprache zu sprechen, ein philosophisches Grunderlebnis zur Voraussetzung: das Innewerden des deutschen Idealismus, der Fichte, Schelling, Hegel. Von hier aus gewann er sein religiöses Grunderlebnis: die deutsche Mystik, das „Fünklein“ der Eckehart, Böhme, Tauler. Spät, sehr spat, als sein Turm im Wesentlichen vollendet war, erfuhr er die Latinität, die klassische Begriffswelt des Christentums. Er rezipierte sie, soviel er noch konnte, in seine Kategorien, in seine auch schon psychologisch festgefahrenen Anschauüngeh von Gott und Geist. Das erklärt seine religiöse Unbestimmtheit in den Grundfragen des Christentums. Bestimmt, eindeutig — und in diesem Sinne wurde er auch der große Pädagogus ad Deum unserer Universität — war seine persönliche, erschöpfende Hingabe an Gott. Womit seine Kategorienlehre, sein Hauptwerk, schließt, zeichnete auch sein Leben und Sterben:

„Je mehr das menschliche Gemüt sich in sich selbst versenkt, je tiefer es in sein eigenes Geheimnis hinabsteigt, um so mächtiger verspürt es den lebendigen Drang des Herzens, der es zum Ziele hinweist und den die Worte des hl. Augustinus klar vernehmlich gedeutet haben: Du hast uns zu Dir geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.

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