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Ein großer Menschenbildner

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Am IT., September starb in Tübingen im Alter, von 81 Jahren der Nestor der deutschen Philosophen und Pädagogen, Universitätsprofessor Eduard Spranger. 1882 in Berlin geboren, promovierte er 1905 und habilitierte sich 1909 ebenda. 1911 wurde er als Nachfolger von Ernst Meumann nach Leipzig berufen, wo er bereits 1912 eine ordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik erhielt. 1920 ging er als ordentlicher Professor nach Berlin und wirlcte an seiner Heimatuniversität bis zu seinem Rücktritt im Jahre. 1931?. Während der Jahre 1936 37 war er in Japan tätig. Ein Teil seiner dort gehaltenen Vorlesungen wurde unter dem Titel „Probleme der Kulturphilosophie“ in japa- i’ftmer Sprache veröffentlicht. Nach dem Krieg war er der erste Rektor der Universität Berlin. 1946 nach Tübingen berufen, lehrte er dort bis tu j seiner Emeritierung im Jahre 1955.

Die deutsche Erziehungstheorie der letzten vier Jahrzehnte ist eng mit dem Namen Eduard Spranger verbunden. Sie trägt deutlich das Signum dieser edelgesinnten Geistesgestalt, deren Lebenswerk zu einem großen Teil der Erforschung der Erziehungswirklichkeit und der Aufhellung des Inneren des werdenden Menschen gewidmet war. Getragen von der Treue zur Verant-t wortung, der Liebe zur Jugend und den geistigen Werten, hat er in genialer Weise vielfältige, bisher unergründete Tiefen dieser Wirklichkeiten durchforscht und durch meisterhafte Darstellung in unser Blickfeld gerückt. In seiner von strenger Objektivität und hingebender Versenkung bestimmten Forscherarbeit steht die Kultur an einer zentralen Stelle. „Kultur und Erziehung“ hat er eine Sammlung pädagogischer Aufsätze überschrieben und so den Zusammenhang gezeigt, den die beiden Gebiete haben.

Der Achsenpunkt der Erziehung

Doch besteht zwischen diesen ein wesentlicher Unterschied, der darin zum Ausdruck kommt, „daß der kulturschöpfende Mensch aus seinem Subjekt durch sinnvolle geistige Akte objektive Wertgebilde herausgestaltet, die dann auch für andere da sind, von ihnen verstanden, genossen und fortgebildet werden können Der Erzieher hingegen! ist seinerseits erfüllt von der Liebe zu den bereits gestalteten objektiven Geisteswerten, auch wenn er selbst gar kein Schöpfer sein sollte, und er ist bestrebt, diese objektiven Werte in subjektives seelisches Leben und Erleben zurückzuverwandeln. Er will sie vor allem in der Gesinnung und den Fertigkeiten sich entwickelnder Seelen rege machen“. Da Kultur nur durch Entbindung von Werten in Seelen lebendig erhalten werden kann, ist mit jeder Kulturschöpfung selbsttätig auch der Erziehungswille gefordert. Er wird aber erst dann wirksam, wenn die Rückverwandlung objektiver Geisteswerte in seelisches Verstehen ausdrücklich den besonderen Sinn empfängt, „daß die Seele sich daran bilde, daß sie sich ausweite und mehr in die Höhe wachse".

So läßt sich nach Spranger „ein bewußtes Erziehertum nicht ohne umfassendes und vertieftes Kulturbewußtsein denken“. Es ist der Achsenpunkt jeder Erziehung als „der von einer gebenden Liebe zu der Seele des anderen getragene Wille, ihre totale Wertempfänglichkeit und Wertgestaltungsfähigkeit von innen heraus zu entfalten“. Als Kulturtätigkeit ist Erziehung auf persönliche Wesensformung sich entwickelnder Subjekte gerichtet. „Sie erfolgt an den echt wertvollen Gehalten des gegebenen objektiven Geistes, hat aber zum letzten Ziel die Entbindung des autonomen normativen Geistes, eines sittlich-idealen Kulturwillens im Subjekt.“ Aus dem Wissen um diese Wertgehalte, und erfüllt von der Sehnsucht liebevollen Helfenwollens, kann der Menschenbildner in der Seele des Werdenden jene ewigen, von niemandem bewiesenen und doch gültigen um verpflichtenden Leitsterne zum Aufleuchten bringen, die als Sinnregulator den bleibenden Aufgaben eines zum Wert gesteigerten Lebens die Richtung weisen. Dieses maßgebende „innerste Regulierwerk“ im’ Menschen in Gang zu setzen, ist das Anliegen der Pädagogik Sprangers, die in seinem bahnbrechenden Werk der Deutung von „Lebensformen“ ihre philosophische, werttheoretische, geistesgeschichtliche und psychologische Begründung erfuhr.

Der geisteswissenschaftlichen Strukturtheorie seines Lehrers Wilhelm Dilthey verpflichtet, zeichnet er darin die eigentümlichen strukturellen Merkmale des Geisteslebens, auf die er seine Lehre von den idealen Typen der menschlichen Individualität gründet. Aus der in die Tiefenbezirke der Wissenschaft eindringenden Sorgfalt hat er im Wis- serj um die Grenzen der Gültigkeit des Kausalitätsprinzips in exakter Anwendung der verstehenden Me thode die teleologische dem Sinndenken eigene Betrachtungsweise im Bereich der Geisteswissenschaften gerechtfertigt und in echter Meisterschaft fruchtbar gemacht. Dabei kamen seine seltene Gabe nachfühlender, intuitiver Totalauffassung fremder Seelenzustände, sein scharfes Auge für Wahrnehmung und Verstehen von überpersönlichen Zusammenhängen und Teleologien und seine nur dem auf hoher Warte stehenden Philosophen eigene Breite und Universalität des geistigen Blickfeldes voll zur Geltung. Diese besondere Geistesgabe ließ ihn jene Erkenntnisse finden, die das gesamte pädagogische Denken und Tun im deutschen Sprachraum in neue Bahnen lenkten und so die moderne kulturphilosophisch begründete Pädagogik in die Wege leiteten.

Das Wesentliche im Dasein der Jugend

Die „ewige Renaissance", aus der nach Spranger die menschliche Kultur immer neue Antriebe empfängt, ist das Jugendalter. Ihm galt daher seine ganze Aufmerksamkeit und

Sorge. Mit Treue und Hingabe an die jugendliche Seele gab er in seiner verstehenden „Psychologie des Jugendalters“ ein eindrucksvolles Anwendungsbeispiel der von ihm vertretenen geisteswissenschaftlichen Strukturpsychologie. Den Menschen in seiner Jugend als ein Ganzes sehen lernen, um das Gesehene wieder in Leben, Tat und Liebe umwandeln zu können, ist der Sinn dieser klassisch gewordenen seelischen Gesamtcharakteristik. Sie führte die zeitgenössische Jugendpsychologie aus dem Engpaß jener einseitigen naturalistischen Auffassung heraus, die von den physischen Lebensvorgängen der Pubertät allein Aufhellung und Erklärung des jugendlichen Seelenlebens erwartete. In. Methode und Zielsetzung war diese Von der kausal-mechanistischen Denkungsart bestimmte Pubertätspsychologie einseitig auf das Sexualproblem gerichtet. Es kommt wohl auch bei Spranger zu seinem Recht, doch lehnt er die irrige Meinung ab, man könne die seelischen Veränderungen in der Reifezeit aus der nun einsetzenden verstärkten Drüsentätigkeit erklären.

Der akademische Lehrer

Mit der Kernfrage, wie sich die spezifischen Sexualerlebnisse der seelischen Gesamtstruktur der Entwicklungsjahre einordnen, hat er diesen vordergründigen Standpunkt überwunden und erstmalig einen das Ganze umfassenden tiefen Einblick auch in alle anderen leib-seelischen Lebensvollzüge und seelischgeistigen Sinnbeziehungen gegeben, die nur in fernem Zusammenhang mit der Sexualsphäre stehen oder überhaupt außerhalb liegen. Mit dem feinen Gefühl eines echten Seelendeuters hat er das Wesentliche im Dasein der Jugend aufgefunden und es in edler Vornehmheit der wissenschaftlichen Diktion dargestellt. Erfüllt von der Ehrfurcht, die dem Leben gebührt, verstärkte er so das Echo, „das von den Wänden geweihter Räume und aus den Tiefen reiner, echter Seelen uns entgegenklingt“!

Die von Liebe zum jungen Menschen getragene Grundhaltung

Sprangers bestimmte auch seine Tätigkeit als akademischer Lehrer. Durch mehr als vier Jahrzehnte ließ er viele studierende Generationen an seinem unermüdlichen Ringen um die Wahrheit teilhaben, immer auch in der Absicht, dadurch auf die Gesinnung der akademischen Jugend reinigend einzuwirken. Der uralten platonischen Weisheit verpflichtet, daß echtes Wissen zu einer Wesensverwandlung der ganzen Person führe, hat er bis zu seinem Lebensende daran festgehalten, daß die Universität als Bildungsstätte nur dann wirksam werden kann, wenn im Wissenschaftsraum neben dem Geist der Sachlichkeit auch der ethische Aspekt zur Geltung kommt, wenn das gewonnene Wissen zur ständigen Prüfung des Gewissens aufruft, das dann in der besonderen Rolle des Wahrheitsgewissens auf- tritt. Denn „wer nicht eine Person mit Gewissen und Weitblick und Liebe geworden ist, in dem bleibt das Auge der Wissenschaft blind“. So hat Spranger die Möglichkeit einer tiefgreifenden Bildung des Menschen durch die Wissenschaft gegen die Wertstandpunkte ablehnende Haltung des Positivismus erfolgreich vertreten. Diese wertende Stellungnahme hat er in einer seiner letzten Arbeiten über das Thema „Der Universitätslehrer als Erzieher“ jedem akademischen Lehrer beschwörend ans Herz gelegt: „Wenn das Prinzip der Wertfreiheit alles Erkennens so weit getrieben wird, daß auch die Reflexion über Werte, Wertungen und Wertzusammenhänge aus der wissenschaftlichen Provinz hinausverwiesen wird, dann kann die Universität wohl noch strenges methodisches Denken lehren, aber zu der Methode der richtigen Lebensführung kann sie als Lehranstalt keine Anweisungen mehr geben.“ Damit begibt sie sich aber ihrer kultur- und lebensformenden Kraft, die seit je den Geist des Abendlandes durchströmte. Da Spranger zeit seines Lebens diese Kraft der Wissenschaft als eine „Grundfunktion der Menschheit“ in Wort und Tat freizusetzen bemüht war, wurde er zum Anwalt der Idee der abendländischen Universität im allgemeinen und der modernen, dem Geiste Humboldts verpflichteten Universität im besonderen, die heute erneut von so vielen Seiten her gefährdet ist. Eine dieser Gefahren liegt wohl in der Verwechslung der Welt der Wahrheit mit der Welt der Macht.

Weltoffen und dem Leben zugewandt, nahm Spranger über die Universitätsebene hinaus zu allen brennenden Bildungs- und Kulturfragen der Zeit, die ein Ja oder Nein verlangten, Stellung. Aus echter Kulturverantwortung beleuchtete er von verschiedenen Blickpunkten wiederholt unsere krisenhafte Gegenwartslage, um so den Menschen zum Bewußtsein zu bringen, woraus eine Kultur eigentlich lebt. Für Spranger ist es das wache Gewissen, das auf mehr als auf Irdisches bezogen ist. „Fehlt dieses Zentrum, so entsteht ein Massenmensch, sei es auch in Funktionen und Stellungen, die viel Macht verleihen. Es ensteht der .systemgebundene Mensch’, der der Totengräber der abendländischen Kultur sein wird.“ Doch solange das Ethische, aufs engste mit der Freiheit der Person verbunden, nicht aus der Welt geschafft wird, ist dieser drohenden Gefahr noch zu begegnen. Diese ethische Kraft aus dem Geiste der abendländischen Humanität als einer „Schichtung von Lebensformen und Lebensnormen, von mühsamen Selbstüberwindungen und tapfer erkämpften metaphysischen Überzeugungen“ immer wieder zu erneuern, ist das letzte Ziel der Erziehung. Damit ist der weitgespannte Ideenkreis Sprangers geschlossen. Aber „jedes Gedankenganze“ — so schrieb er in seiner letzten umfassenden Arbeit über „Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung“ — „hat ein Fundament, auf dem es steht, oder eine Achse, um die es sich dreht. In unserem Falle war es die Voraussetzung, daß es verpflichtende Normen gibt und daß die Auseinandersetzung mit ihnen ihr Zentrum in der Intimität des Gewissens hat.“ Was jedoch Spranger besonders auszeichnete, war die Einheit von Denken und Tun, Lehre und Leben. So wurde das Gedankenganze zum Lebensganzen, das — getreu seiner Theorie der Lebensformen — von der Tugend des Fleißes, der Wahrhaftigkeit, der inneren Form, der Liebe, der Selbstbeherrschung und der Frömmigkeit geprägt war.

Möge dieser große Gelehrte, Erzieher und Freund der Jugend in den Herzen aller jener fortleben, die sich in unserer so verworrenen Zeit um das Bild des Menschen und um Menschenbildung bemühen.

AUe Zitate dieses Aufsatzes sind dem wissenschaftlich-literarischen Lebenswerk Eduard Sprangers entnommen.

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