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Pädagogik der Mitte

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Wollte man die Beratungen auf dem diesjährigen österreichischen Katholischen Lehrertag in Ischl (Ende August) mit einem zusammenfassenden Ausdruck kennzeichnen, so könnte man das, was dort geboten wurde, eine „Pädagogik der Mitte“ nennen. Denn wenn es in der modernen Kunst und vielleicht in der gesamten Kultur der Menschen von heute so etwas wie einen „Verlust der Mitte“ gibt, die Referenten der Ischler Tagung ließen spüren, daß für sie noch eine Mitte existiert. Man dürfte ihre Haltung auch eine Pädagogik des Maßes — des weisen Maßhaltens — heißen, der Abkehr von allen Schlagworten, von allen Einseitigkeiten und Übertreibungen.

Der Salzburger Landesschulinspektor Dr. L a i r e i t e r gab eine Ubersicht über die verschiedenen möglichen und heute bedeutsamen pädagogischen Strömungen. Das Treibende in aller Pädagogik scheint ihm der Wille zum Menschentum. Alle im ausgehenden 19. Jahrhundert wirksamen pädagogischen Reformbewegungen laufen darauf hinaus. Die „Pädagogik vom Kinde her“, wie die humanistische oder Wertpädagogik und auch die dritte dieser Stömungen, die Pädagogik der Individualität, die Persönlichkeitspädagogik, entstanden in der Gegnerschaft gegen den damals übermächtig gewordenen Staat, gegen Wirtschaft und Technik und gegen die Kirche. Vor ihnen versuchten sie das Kind — den Menschen — zu schützen. Als aber diese herrschenden Mächte zum Teil zusammenbrachen, hatten die pädagogischen Richtungen auf einmal keinen Gegner mehr und waren nun nicht imstande — da sie ganz im Protest steckengeblieben waren —, mit ihren Ideen die zusammengebrochene “Welt neu aufzubauen. Die Jugend wendete sich von ihnen und von der Kluft ab, die zwischen ihren gepriesenen Bildungswegen und der plötzlich merkbar gewordenen Notdurft des Lebens sich auftat. Und heute? Trotz mancher wertvoller Bestrebungen im einzelnen hat die moderne Pädagogik die neue Zeit und ihren Sinn — den Schiffbruch des endlichen, rein natürlich sein wollenden Menschen und die neue Gottsuche — noch nicht verstanden. Es wird die Sache einer christlichen Pädagogik sein, dieser Sehnsucht des modernen Menschen zu antworten.

Universitätsdozent Dr. Asperger nannte in seinem Vortrag über B i o-logie und Erziehung die Medizin eine der vielen säkularistischen Religionen der Zeit. Der Grund für die so bezeichnete Erscheinung, daß ein Arzt über Erziehung zu sprechen hat, liegt im Zerfall der menschlichen Einheit durch eine immer ärger werdende Intellektuali-sierung. Weithin scheint heute die menschliche Mitte zwischen den in polarer Spannung stehenden Gebieten — Instinkt und Denken — verlorengegangen zu sein. Dies zeigt sich natürlich auch in der Erziehung, und besonders Amerika ist das klassische Land vieler von purem Intellektualismus diktierter pädagogischer Versuche. Demgegenüber brauchen wir wieder ein Handeln aus der Richtigkeit der Instinkte. Eine wichtige Konsequenz instinktsicherer Pädagogik heißt: Das Unbewußte soll unbewußt bleiben. Und alle Meinung, durch bloßes Bewußtmachen allein schon Schwierigkeiten zu heilen, hat sich als Aberglaube erwiesen. Wertvoller als alle intellektualistisch ausgeklügelten Erziehungsmaßnahmen ist das Schaffen der richtigen pädagogischen Atmosphäre. Arzt und Lehrer zeigen eine tiefe innere Verwandtschaft: bei beiden kommt es nicht so sehr auf Rezepte und Methoden an, sondern auf das menschliche Vertrauen, das sie ausstrahlen.

Auch bei dem Referat des Sektionsrates Dr. Lang ging es um eine Bestandaufnahme: Ist Psychologie eine dominierende Wissenschaft für den modernen Erzieher? Und welche Psychologie darf den Anspruch erheben, Grundvoraussetzung der Pädagogik zu sein? Der Referent wollte zunächst jede rein spekulative Psychologie — unbeschadet ihres an sich unbestrittenen Wertes — ausgeschaltet wissen. Aber auch jene Psychologie, die sich mit den einzelnen seelischen Funktionen befaßt, hat für die Pädagogik wenig Gewinn gebracht. Anders jene Richtungen in der modernen Seelenkunde, die die ganzheitlichen Strukturen des Menschen zum Gegenstand haben. Doktor Lang zeigte im einzelnen die heute schon feststehenden Ergebnisse etwa der Milieupsychologie, der Tiefenpsychologie, der Entwicklungspsychologie auf. An vielen ihrer Erkenntnisse kann der moderne Erzieher nicht mehr vorübergehen. Gewarnt muß jedoch vor jedem enthusiastischen Optimismus und vor jeder einseitigen Festlegung auf eine bestimmte wissenschaftliche Richtung werden. Denn sie alle haben auch manche Gefahren, vor allem die sektiererische Vereinfachung der Wirklichkeit, die Neigung, Modelle und Schemata zu bilden, die dem wirklichen Leben nicht entsprechen. Falsch wäre es auch, zu meinen, daß die Psychologie die großen Vorbilder für das menschliche Handeln schaffen könne. Was die Welt braucht, ist nicht der Psychologe als Erzieher, sondern der psychologisch gebildete Erzieher, der in freier, abgeklärter überschau die sicheren Ergebnisse der verschiedenen psychologischen Richtungen als Erzieher praktisch verwertet.

In dem Reierat des Bundesrates Professor L u g m a y e r über Soziologie und Pädagogik gewannen für die Zuhörer viele oft gehörte, also bekannte oder bekannt anmutende Begriffe aus dem Gebiet der Gesellschaftslehre ganz neues Leben. Die Hörer lernten menschliche Gesellschaft sehen als eine Ordnung selbständiger Wesen, eine Beziehung von Personen. Die richtige Ordnung jeder Gemeinschaft erscheint gegeben, wenn die gegenseitige aktive Gleichberechtigung der Personen gewahrt wird. Hauptziel aller Erziehung zur Gesellschaft muß sein, den Menschen die Erkenntnis vom Wesen der menschlichen Gemeinschaften und Achtung vor der Person in jeder Gemeinschaft zu vermitteln. Mehr als mancher andere muß der Erzieher versuchen, gewisse Grunderkenntnisse der Soziologie sich anzueignen, weil er ja berufen ist, junge Menschen zur richtigen Haltung der Gemeinschaft gegenüber zu führen.

Sehr bescheiden und fern allem Enthusiasmus nannte der letzte Referent, Universitätsdozent Dr. Windischer (Innsbruck) sein Referat: „Unsere Zeit auf dem Wege zu einer normativen Pädagogik.“ Es gibt eine Krisis normativer Pädagogik. Ihr stehen Versuche gegenüber, eine normative Pädagogik neu aufzubauen. Versuche mit unzulänglichen Mitteln: etwa auf Grund einer totalen Psychologisierung oder einer Auflösung pädagogischer Normen in psychiatrische Therapie. Pädagogik aber muß zukunftgerichtet sein, und das gesunde Seelenleben darf nicht fast zur Ausnahme degradiert Werden. Normen, die nicht gestaltend und führend wirken, zünden nicht. Pädagogische Normen müssen um das Staunen vor dem Menschen wissen. (Der Christ hat dieses Staunen, er hat als Letztes das Geheimnis.) Normen dürfen keine Rezepte sein wollen. Sie sind Ausdruck der inneren Unruhe des Erziehers. Der konkrete Mensch muß wieder im Mittelpunkt stehen. Das Erleben des Kindes ist mit Ungewißheit und Wagnis verbunden. Und auch das gehört zur Situation von heute: Das Wissen um die Existenz des Bösen, dem wir in der Erziehung ganz anders begegnen müssen als bisher. Alles ist heute wieder auf persönliche Begegnung angelegt und auf Bewährung.

Alle unsere Normen sind erst auf dem Wege. Wir holen sie als Christen in unser Menschentum herein. Die Absage an den Hegeischen Titanen; die Liebe zum endlichen, armen Menschentum; dieses Bescheidenwerden ... Vielleicht ist das unsere Rettung. Durch die Endlichkeit all unserer Normen leuchtet das Ewige im Menschen um so eindringlicher durch.

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