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Digital In Arbeit

Freizeit und Freiheit

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1. Lang sind die Tage während der Kindheit. Zwei freie Tage bieten einen Zeitraum fast ohne Ende, laden ein zur Vertiefung in einem Spiel, geben Gelegenheit, einBuch so richtig hingerissen zu Ende zu lesen, verleiten zu abenteuerlichen Ausflügen oder langen Spaziergängen, lassen die Süße d/es Nichtstuns erleben (diesen scheinbaren Müßiggang, der den ununterbrochenen Strom der halbbewußten Kontemplation umschließt), ja, zwei freie Tage können das Erlebnis der Gemeinsamkeit erwecken: in der Familie, im Freundeskreis, im Zusammensein mit einem Mädchen. Zwei freie Tage am Wochenende stärken den Mut zur Phantasie.

Die freie Zeit bringt aber auch einen Zuwachs an persönlicher Freiheit. Die Bindung zum Kollektiv der Schulklasse wird gelockert, eine gewisse Distanz kann entstehen, die letztlich zu einem fruchtbaren Spannungsverhältnis führt, zur Erneuerung des Interesses; man kann sozusagen Atem holen, um dann in der Gemeinschaft wieder an die Arbeit zu gehen.

Zwei schulfreie Tage in der Woche sind gut.

2. Fünf Tage in der Woche zum Lernen sind wenig. Man kann aus dieser Überlegung zwei Folgerungen ziehen.

Man kann die Zahl der täglichen Unterrichtsstunden erhöhen, so daß die Schüler erst am Nachmittag entlassen werden. Dadurch wird das Lebensgefühl der Schulzeit an den Rhythmus des späteren Berufslebens angeglichen, und das Leben stellt sich dar als ein einziger, von vielen Feiertagen unterbrochener, aber im wesentlichen kontinuierlicher Arbeitsprozeß, der die Jahre etwa zwischen sechs und sechzig umfaßt. Ich finde diese Vorstellung an sich grauenhaft und zudem auch in ihren Auswirkungen für die Gesellschaft bedenklich. Und zwar nicht nur, weil zwangsläufig eine Monotonie entsteht, die notwendigerweise Gegenkräfte erzeugen und zu einem Aufstand im Zeichen eines herbeigesehnten Chaos führen mm3, zu einer Rebellion von einzelnen oder ganzen Gruppen. Diese Kontinuität von der Zeitspanne eines halben Jahrhunderts müßte auch zu einer Reduktion der Spannkraft am Anfang der beruflichen Laufbahn führen. Nach, acht oder zwölf oder gar sechzehn Jahren Ganztagsschule (denn viele Universitäten des Massenunterrichtes müssen wir ebenfalls als simple Schule betrachten) ist es kaum mehr möglich, sich mit Begeisterung und freudiger Frische an die Arbeit zu machen. Wir könnten uns bald in einer Gesellschaft von früh gealterten menschlichen Lem- und Arbeitsmaschinen befinden.

Zweite Möglichkeit: Man begnügt sich mit fünfmal fünf oder sechs Stunden in der Woche. Genügen aber dreißig Stunden, um die gegenwärtig vorgesehene oder gar eine noch größere Menge an Wissen zu vermitteln oder zu apperzipieren?

Die Antwort ist wahrscheinlich negativ. Also gibt es für die Umformung des Lehrstoffes wohl nur zwei Möglichkeiten: die Menge an Wissen nicht zu reduzieren, doch die Dinge einfacher, ja einfältiger darzustellen, das heißt, das allgemeine geistige Niveau zu senken - oder aber die Qualität beizubehalten und noch zu heben, aber eine quantitative Reduktion des zu vermittelnden Wissens vorzunehmen.

Ich glaube also, die Fünftagewoche in den Schulen kann als Fortschritt nur dann begrüßt werden, wenn in der Menge der unterrichteten Dinge ein Rückschritt erzielt werden kann.

3. Damit aber berührt die Diskussion über die Fünftageschule die Kernfragen des heutigen Schulwesens überhaupt:

Wie erreichen wir, daß man sich in der Schule mit den „nützlichen” Dingen weniger beschäftigt? Wie kann die Menge an den vermittelten praktischen Kenntnissen - die rasch veralten und letztlich unbrauchbar werden - radikal vermindert werden? Wie kann man den Lehrstoff befreien von der Beschreibung technischer Prozesse? Wie kann man Spezialgebiete ausklammern, die sich mit einzelnen Aspekten der gesellschaftlichen oder physologi- schen Mechanik befassen?

Wie kann dafür die Schule die Methodik des Lernens lehren, die persönliche Denkfähigkeit entwickeln, all die zukünftigen Spezialisten mit einem gemeinsamen Menschenbild und einer gemeinsamen Zeichensprache der Ethik beschenken und damit der späteren Vereinsamung entgegenwirken? Wie kann die Schule dazu beitragen, daß die Menschen glücklicher werden, und zwar vor allem nicht durch Leistung und „gesellschaftlichen Aufstieg”, sondern durch mehr Bewußtheit und Selbsterkenntnis?

Bilden heißt ursprünglich: einer Sache Gestalt und Wesen geben. Vielleicht werden die beiden schulfreien Tage eine Humanisierung der Schulen fördern, damit sie die Quantität an Information einschränken und dafür versuchen, das Wesentliche begreifbar und gestaltbar zu machen. Maßstab des Fortschritts ist die Avantgarde, das heißt: der Forschritt der Qualität.

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