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„Liebgewordener Wissensplunder..

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Im Schulstreit ist die Begründung für die Verlängerung der Schuldauer praktisch von keiner Seite, nicht einmal von den schärfsten Gegnern des 9. Schuljahres, bestritten worden. Man steht allseits auf dem Standpunkt, daß die Menge des Wissens in unserer Zeit derart zunimmt, daß eine Ausdehnung der Ausbildungszeit Über kurz oder lang auf jeden Fall notwendig sein wird. Schaut man sich dazu ein wenig um, so stellt man mit Verwunderung fest, daß es offenbar demgegenüber zahlreiche Schulen gibt, die Samstag schulfrei halten, also zur 5-Tage-Woche übergegangen sind. Das hat man zwar schon seinerzeit bei der allgemeinen Einführung der verkürzten Arbeitswoche vorausgesagt, aber dann doch nicht zum Gegenstand einer allgemeinen Regelung gemacht. Unter anderem fand die auf einer Pressekonferenz damals vorgetragene These, daß die Lehrer nicht die Babysitter der Nation sind, keine beifallsbrausende publizistische Unterstützung durch die Journalisten, die am Samstag für die Sonntagzeitung und am Sonntag für die Montagzeitung arbeiten müssen. Trotzdem ist die 5-Tage-Unterrichtswoche angesichts der

weiteren Verkürzungen der Arbeitswoche unausbleiblich. Und damit entsteht eine bemerkenswerte Rechnung. Der Ausfall der Unterrichtssamstage in acht Pflichtschuljahren ergibt nämlich ziemlich genau den Verlust eines Unterrichtsjahres. Das 9. Schuljähr wäre also kein Gewinn an Bildung, sondern ein Ersatz für Freizeit, erkauft mit einem Lebensjahr.

Der 5-Tage-Unterrichtswoche gehört die Zukunft. Vor allem wegen des Problems der Lehrkräfte. Sie wird notwendig, weil die Jugend sich zusehends von den B-Tage-Berufen abwendet. Die Chance, die Liebe der Jugend für den Lehrberuf zu gewinnen, sinkt um so mehr, je weiter die Klxift zwischen der Unterrichtswoche und der Arbeitswoche wird. Ebenso wie der Beruf des praktischen Arztes immer mehr zugunsten des an normale Arbeitszeiten gebundenen Facharztberufes gemieden wird, geht es auch mit dem Lehrberuf. Es wäre Illusion, etwas anderes zu erwarten. In das gleiche Kapitel gehört die Abneigung gegen die Ausübung des Berufs auf dem Land. Der Wunsch, Lehrer auf dem Land zu werden, wird genauso rar wie der Wunsch, Landarzt zu werden.

Die Urbanisation hat nun einmal die Menschheit in ihrem Griff-Aufs Land geht man nur noch im Urlaub und selbst da nur, wenn genügend Tamtam geboten wird. Im Land Salzburg werden im Schuljahr 1969/70 etwa 25 Lehrer zuwachsen und über 80 ausscheiden. In einem anderen Bundesland lockt man — vergeblich — mit Prämien zur Annähme von Landlehrerstellen. Wie verzweifelt die Lage ist, zeigt der Vorschlag, den Lehrern das Höchstgehalt ihrer ganzen Berufslaufbahn am Anfang ihrer Berufstätigkeit auszuzahlen und das Gehält mit zunehmenden Alter zu senken statt zu erhöhen. Auch das böte aber kaum Anreize, einen Beruf zu sonst altmodischen Bedingungen zu ergreifen. Der junge Mensch will eben in die Stadt, er will nur fünf Tage arbeiten. Das gilt auch für die Interessenten am Lehrerberuf. Sofern sich solche Interessenten überhaupt noch finden. Man darf nämlich nicht übersehen, daß eine Generation, die kein Interesse an der Lehre der Alten, an der Überlieferung, an dem gestern gewonnenen Wissen hat, in ihrer gegenwartsgebundenen Egozentrik auch kein Interesse daran hat, solches Wissen an jüngere Gene-

rationen weiterzugeben. Vielleicht findet man im Unterricht mit der Maschine einen Ersatz — der Selbstbedienung im Schuhgeschäft und in der Straßenbahn wird die Selbstbedienung in der Schule folgen müssen. Maschine, Freizeit und Stadt sind eben die Lebenselemente unserer Zeit.

Das alles widerspricht freilich einer Bewältigung des angeblich vermehrten Wissens. „Angeblich“ deshalb, weil die Frage zu stellen ist, ob sich das Wissen wirklich vermehrt hat. Sicherlich kennen wir heute in der organischen Chemie um einige hunderttausend Kohlenstoffverbindungen mehr als vor 50 Jahren, der Umfang des damit verbundenen Grundwissens hat sich nur wenig vermehrt und vieles alte Wissen ist durch die neuen Erkenntnisse hinfällig und überflüssig geworden. Ob das nicht für die meisten neuen Entdeckungen, Forschungen usw. gilt?

Auffällig ist, daß unsere Lexika, die eigentlich eine kurzgefaßte Universalschau über das Wissen der Gegenwart bringen, nicht umfangreicher geworden sind. Man hat sie allerdings gründlich entrümpelt. Das gleiche fordert man bekanntlich schon lange auch

für unsere Lehrpläne, man scheint sich nur hier von einem liebgewordenen Wissensplunder nicht trennen zu können (es scheint in unseren Tagen wirklich belanglos zu sein, wie viele Verhältnisse Goethe gehabt hat). Schließlich ist die Frage zu stellen, ob die Menschen überhaupt die Verlängerung des Lernens, der Lehr- und Lernzeit wollen. Man hat angesichts praktischer Erfahrungen zum Beispiel mit der neuen Linzer Hochschule die Forderung erhoben, dieses Problem einmal im Stil moderner Marktforschung anzupacken und klarzustellen. Von der Absage der 42-45-Stunden-Wöchner an die Idee der Erwachsenenbildung, wie sie in den Linzer Erhebungen zum Ausdruck kam, soll nicht die Rede sein. Wie weit jedoch die Jugend einer gründlichen intensiven Berufsausbildung in möglichst kurzer Zeit mit oder ohne Einbeziehung von Allgemeinbildungszielen zugeneigt oder wie weit sie an einer zerdehnten Lernzeit interessiert ist, scheint nicht bekannt zu sein, weil darüber offenbar keine authentischen Erhebungen vorliegen. Die, Idee, auch bezüglich des Wissensbedarfs Marktforschung zu betreiben, ist daher nicht abwegig. Man wird sich aber auf jeden Fall vor Augen zu halten haben: Die Vorstellung, daß sich der Wunsch nach einem möglichst hohen Lebensstandard mit einer immer längeren Lernzeit bei relativ niedrigem Lebensstandard verbinden läßt, ist unrealistisch.

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