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Matratzenbärte und Loreleyhaar

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Vor dem Ersten Weltkrieg war man mit 24 Jahren „mündig“. Hingegen setzte das Kanonische Recht die Heiratsfähigkeit für Mädchen mit 12, für Jünglinge mit 14 Jahren fest. Kirchlich gilt das auch heute noch...

Alle diese „Festsetzungen“ sind immer schon „Hausnummern“ gewesen und werden es sein, was natürlich nicht ausschließt, daß sich Interessengruppen mit Nachdruck für diese oder jene „Ziffer“ einsetzen. Politische Parteien, die auf Jungwähler erpicht sind, werden das Wahlalter niedrig ansetzen, dabei aber die Erfahrung machen müssen, daß ihre Rechnung nicht immer aufgeht. Linksparteien spekulieren meist auf den Zuzug der jungen Generation, getreu der alten Maxime, daß, wer mit 20 nicht links steht, kein Herz hat, wer dies aber noch mit 40 tut, über keinen Verstand verfügt. Das ist allerdings eine viel zu fazile Formel. Wenn man die Untersuchungen Professor Jaides betrachtet, wird man entdecken, daß in der Bundesrepublik die jüngste Generation der Mittel- und Oberschüler — milde ausgedrückt — sehr wilhelminische Auffassungen vertritt.

Aber ist wirklich Reife für die

Mündigkeit eine Vorbedingung? Die Mündigkeit beruht auf einer Verfügung des Gesetzgebers, doch der Eintritt einer Reife — an und für sich ein höchst dehnbarer Begriff — ist nur schwer zu beweisen. Das Wissen läßt sich durch Prüfungen feststellen, die Weisheit hingegen nur durch langwierige Erprobung.

Der moderne Parlamentarismus hat sich über personenbezogene Werturteile immer mehr hinweggesetzt. Die politische Mündigkeit ist ein rein vegetabiles Prinzip geworden. Das gilt auch in anderen Bezirken: man ist so und so lange auf der Welt und bekommt daher diese und jene Rechte, Berechtigungen und rechtlichen Schutz. Ein Mord, von sinem“ Vierzehnjährigen mit allen Regeln der Kunst begangen, zieht überall ein kleineres Strafausmaß hinter sich als in späteren Lebensjahren. Anderseits hat die Prostituierte im Alter von 21 Jahren — bis dato! — dieselbe Wahlstimme wie der sechzig Jahre alte Professor des Völkerrechts. Nicht Wissen und Erfahrung, sondern Wollen und Fühlen wird zusehends ausschlaggebend. Im Lichte dieser Überlegungen sieht man kein Argument gegen die Volljährigkeit der Neunzehnjährigen, die sicherlich von manchen Eltern radikal abgelehnt, von anderen aber freudig begrüßt worden ist. Wenn die achtzehnjährige Tochter einen offensichtlichen Halunken heiratet, wird man dieser unausweichlichen Tragödie machtlos gegenüberstehen. Anderseits kann man den stinkfaulen und verhaschten Sohn mit einer Haartracht aus dem verblichenen „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ unsanft auf die Gasse setzen. Macht er dazu noch Schulden, haben die dummen Gläubiger das Nachsehen.

Nun aber sind doch trotz des stets geringeren Wahl- und Mündigkeitsalters rückläufige Prozesse in anderer Richtung zu sehen. Auf dem Sektor der höheren Bildung rücken die Diplome in immer größere Ferne. Der österreichische Diplomingenieur nähert sich beim Verlassen der Schulbank bedenklich dem 30. Lebensjahr. Freilieh hat diese sich immer mehr ausdehnende Lernzeit eine sehr reale Ursache und diese liegt in der rapiden Ausbreitung und Vertiefung der Wissensgebiete. Das Nichtwissen nimmt zusehends einen unentschuldbaren Charakter an, das vorgeschriebene und auch wirklich notwendige Wissen und Können wird immer schwieriger zu bewältigen und selbst das engere Fachwissen wird nicht kleiner. Dabei nimm der Prozentsatz der Hochschüler be allen Völkern dauernd zu. Die tech nische Entwicklung bedingt imme mehr Angestellte, Manager unc Facharbeiter (die auch wieder eil bestimmtes Wissen und eine gesam^ melte Erfahrung haben müssen) Und der Hilfsarbeiter, der nu: rhythmische Handgriffe macht, wirc mehr und mehr durch die Automatik ersetzt. Wer vorwärtskommer will, muß weiterlernen.

Viel bedenklicher aber ist ein< biologische Entwicklung, die wissenschaftlich festgestellt wurde, einer erdkreisumspannenden Charaktei hat und bis heute nicht erklär wurde. Überall — auch bei der Kannibalen — fängt die Pubertä' früher an, doch die geistige Reife die man stets mit der pubertärer Entwicklung verband — setzt immer später ein. Leibnitz war 15, Goethe 16 Jahre alt, als sie auf der Hochschule Jura studierten. William Pit1 ging im Alter von 14 Jahren nach Cambridge und war mit 24 Jahrer Regierungsoberhaupt. Die biologische Reife wird mit infantilen Ma-tratzenbärten demonstriert, aber mil den geistigen Hochleistungen ist es nicht weit her. In unserer jungen Generation gibt es keine Wunderkinder.

Woher aber kommt dieser Drang älterer Jahrgänge, auf einmal sich der Jugend dadurch anzunehmen, daß man ihr Rechte, freilich aber auch Pflichten aufbürdet? Die politischen Erwartungen der Parteien allein genügen zur Deutung des Phänomens nicht. Wir leben in einer Atmosphäre der Pädolatrie, der Jugendanbetung, und dies hat wiederum weltanschauliche, religiöse und kulturelle Gründe. In der alten Christenheit standen der Tod und das Kreuz im Zentrum der Existenz. Unser Zeitalter ist, eingebettet zwischen furchtbaren Katastrophen, hedonistisch geworden, der Tod wird recht clever unter den Teppich gekehrt, das Altern wird zur skandalösen Schande, und dafür wird die Jugend beneidet, vergöttert, verehrt. Dadurch, daß man die jungen Leute zu Erwachsenen deklariert, ist man auf einmal mit ihnen in derselben Kategorie. Vergessen wird aber dabei völlig, daß die Jugend kein sehr erstrebenswertes Lebensalter ist, sondern eine Zeit der Einsamkeit unter vielen, des Nichtverstanden-werdens und der höchsten Selbstmordziffern. Doch der heutige Mensch hat ein Siebhirn; er vergißt alles. Er ist ein „Futurist“ und will sich nicht an das erinnern, was einst war, was er selbst dachte, was er empfand, die Jugend hat die Zukunft und daher muß man ihr auch den Weg bereiten. Und das bedeutet größtmögliche Entscheidungsfreiheit zu frühester Zeit. Doch gibt man dieser armen Jugend nur Rahmen und keine Bilder. Die Entscheidungen werden ihr nicht vorgelebt und so ist diese berühmte Zukunft nur ein düsteres Fragezeichen.

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