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Die wichtigsten Erziehungsziele

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Drei katholische Institutionen (Akademikerverband, Bildungswerk, Hochschulgemeinde) luden jüngst in Wien zu einem hochinteressanten Vortrag. Wir zitieren daraus:

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Drei katholische Institutionen (Akademikerverband, Bildungswerk, Hochschulgemeinde) luden jüngst in Wien zu einem hochinteressanten Vortrag. Wir zitieren daraus:

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Die Kinder lernen normalerweise die Welt zuerst in ihrer Familie sund von der Familie aus kennen. Sie verinnerlichen als erstes die Weltdeutung, die Wertungen und Normen, nach denen ihre Eltern leben. Deshalb ist es richtig, daß die Eltern auch rechtlich die Hauptverantwortung für ihre Erziehung haben. Die Famüien sind die kleinsten und wichtigsten Zellen eines Volkes, aber sie können weltanschaulich und moralisch nicht allein aus sich selbst leben. Sie sind auf die Kultur größerer Gemeinschaften angewiesen.

Auch die Persönlichkeitsideale, die in den Familien gelten, stammen weitgehend von außen und müssen von einem größeren Kreis geteilt und bekräftigt werden, um für Eltern und Kinder Geltung gewinnen und/oder behalten zu können. In den meisten Fällen richten sich die Menschen auf Dauer nur nach jenen Idealen, die durch das Beispiel und die Erwartungen einer größeren Gemeinschaft gestützt werden. Persönlichkeitsformenden Einfluß haben oder gewinnen in der Regel nur gemeinschaftliche Ideale.

Es steht mir nicht zu, hier ein altes oder neues weltanschauliches Sonderideal meiner persönlichen Wahl zu propagieren. Ich kann nur an einige unentbehrliche Bestandteile der Lebenstüchtigkeit erinnern, über die in den Familien so oder so entschieden wird — sei es zum Wohl oder zum Schaden der Kinder und der Gesellschaft. Ich muß auswählen und will mich auf fünf Erziehungsziele beschränken, die mir in unserer geschichtlichen Lage besonders notwendig zu sein scheinen, um den Gefahren dieser Lage zu begegnen.

1. Vertrauen zum Leben und zur Welt. Damit ist eine gefühlsmäßige Grundhaltung gemeint, die den Menschen befähigt, sein Leben zu bejahen, von der Zukunft etwas Gutes zu erwarten und in der Gemeinschaft, der er angehört, Geborgenheit zu empfinden. Sie gibt ihm die emotionale Gewißheit, daß sein Leben Wert und die Welt Sinn hat. Dieses Grundvertrauen muß früher entstehen und tiefer im Gemüt einwurzeln als rationale Erkenntnisse das können, denn aus ihm muß ein Leben lang die Kraft gewonnen werden, schlechte Erfahrungen, Zweifel und Angst zu verarbeiten, ohne sich und anderen zu schaden. Für gläubige Christen, Juden und Mohammedaner besteht diese Grundhaltung im Gottvertrauen. Sie bejahen ihr Leben und die Welt, weil sie an einen persönlichen Schöpfer glauben, der alles gut geschaffen hat und der sie liebt...

In einer Zeit, in der das Lebensgefühl der „Gottesfinsternis" vorherrscht, wird das Vertrauen als grundlegende Tugend und als erstes Erziehungsziel davon bedroht, daß die Gegenhaltungen besonders mächtig sind: Angst, Mutlosigkeit, Verdrossenheit, Zweifelsucht, Verweigerungsmentalität, Zerstörungsdrang, kurz: der Geist der Verneinung, der Nihilismus. Er wird unseren Nachwuchs vergiften, wenn wir ihn nicht energisch bekämpfen ...

2. Bereitschaft zur Selbsterhaltung durch eigene Anstrengung. Dieses Teilideal folgt aus der einfachen Tatsache, daß sich die Menschen nur durch Arbeit am Leben erhalten können — entweder durch eigene Arbeit oder durch die Arbeit der anderen. Als Kind, als Kranker, als Pflegebedürftiger im Alter ist jeder Mensch auf die Arbeit anderer angewiesen, aber außerhalb dieser Schonzeiten muß von jedem erwartet werden, daß er selbst für sich und die Seinen sorgt. Wir nennen die geforderte Grundhaltung abkürzend auch „Arbeitswilligkeit" oder „Leistungsbereitschaft" ...

Die Gegenhaltungen dazu sind Arbeitsscheu, Leistungsunwillig-keit, Trägheit, Bequemlichkeit, Faulheit, Passivität; die Neigung, sich bedienen zu lassen; Playboy-Mentalität: Schmarotzer- oder Parasitentum, d. h. die Neigung, auf Kosten anderer zu leben. Wer zur Arbeit negativ eingestellt ist, wer Mitleid mit sich selbst hat, wenn er etwas leisten soll, der schädigt nicht nur andere, sondern auch sich. Er bringt sich um die Freude am gelungenen Werk, um das Hochgefühl nach der Uberwindung von Schwierigkeiten, um das Glück des Erfolgs durch harte Anstrengung. Die modernen Irrlehrer, die den Leistungswillen verketzern und die Berufsarbeit zugunsten der Freizeitvergnügungen abwerten, verderben den Menschen eine unersetzbare Quelle der Selbstachtung, der sozialen Anerkennung und der Erfahrung von Lebenssinn ...

3. Realistisches Welt- und Selbstverständnis. Damit ist zweierlei gemeint: ein ausreichendes Grundwissen über die Welt und sich selbst, das den Tatsachen entspricht; aber auch eine Grundhaltung zur Welt, die man „Wirklichkeitssinn", „Nüchternheit", „Sachlichkeit" oder „Klugheit" im Sinne der abendländischen Tugendlehre nennen kann. Zum Grundwissen gehört vor allem Wissen über die wesentlichen Bedingungen für das Lebensglück des einzelnen wie für das Gedeihen der Gesellschaft in Freiheit und Sicherheit...

Die Gegenhaltungen zum Wirklichkeitssinn sind Wirklichkeitsblindheit, Weltfremdheit, Utopis-mus, Unsachlichkeit, Ich-Haftig-keit, Subjektivismus, Unbelehrbarkeit, Einsichtslosigkeit. Der Gegenpol zum realistischen Grundwissen ist die Ahnungslo-sigkeit hinsichtlich elementarer Bedingungen unserer persönlichen und gesellschaftlichen Existenz: zum Beispiel das Unwissen über die Zusammenhänge zwisehen Moral und seelischer Gesundheit, zwischen Selbstüberwindung und Glück, zwischen der Pflichterfüllung des einzelnen und dem Gedeihen des Ganzen, zwischen Fleiß und Wohlstand, zwischen Wehrhaftigkeit und Freiheit usw. Ebenso gefährlich wie diese Ahnungslosigkeit sind die Illusionen, die Selbsttäuschungen, die unrealistischen privaten Ansprüche und die politischen Luftschlösser vom „neuen Menschen" in einer „herrschaftsfreien Gesellschaft"...

4. Kultur des Herzens. Man kann dieses Erziehungsziel auch „Gemütsbildung" oder „emotionale Büdung" nennen, wenn man dabei an eine ideale Verfassung der Seele denkt, an den Zustand des Gebildetseins, und nicht an erzieherische Handlungen. Mit den Worten „Herz" oder „Gemüt" meinen wir das Zentrum der Gefühle, der Wertschätzungen, der Interessen, der Liebeskräfte des Menschen. Es ist jener seelische Bereich, in dem wir wertfühlend an Menschen und Dingen Anteil nehmen und unser Verbundensein mit ihnen erleben. Wir unterscheiden ihn vom Bereich des reinen Denkens und des rationalen, sachlichen, wertungsfreien Wissens ... Alle kultivierten Bindungen, denen wir seelische Beheimatung verdanken, gehören hierher: an Angehörige und Freunde, an Vorbilder, an Gott und die Gemeinschaft der Glaubensgenossen, an Heimat, Volk und Geschichte, an die Natur und an die Werke der Kunst...

Das Gegenteil der Kultur des Herzens hat viele Erscheinungsformen. Wo es an positiven Bindungen fehlt, treffen wir auf seelische Heimatlosigkeit, auf Welt-und Lebensangst, auf die Gefühle der Leere, der Freudlosigkeit, der Langeweile, auf den Geist der Verneinung, auf Habgier, Neid, Haß und Zerstörungslust. Die Gegenhaltungen zur Kultur des Herzens sind so alltäglich, daß sie jeder kennt. Ich erinnere nur an Gefühlsverarmung und Gefühlskälte, an die Jagd nach Zerstreuung, an Liebesunfähigkeit und Desinteresse am Mitmenschen, an Rücksichtslosigkeit und Unhöf-lichkeit...

5. Selbstdisziplin. Manche nennen dieses Erziehungsziel auch „Bereitschaft zur Selbsterziehung", zur „Selbstbeherrschung" oder zur sittlichen „Arbeit an sich selbst". Es ergibt sich aus der Tatsache, daß der Mensch von Natur aus triebhaft, gierig, egoistisch und hemmungslos ist. Er ist auf Zucht, auf Disziplinierung, auf Kontrolle angewiesen: auf soziale Kontrolle durch seine Gemeinschaft und ihre Lebensordnung, aber auch auf Selbstkontrolle ... Das Ideal der Selbstdisziplin schließt vieles ein: Dienstwilligkeit in der Erfüllung von Pflichten und Aufgaben, Verantwortungsbewußtsein für die Folgen des eigenen Handelns, Verzicht auf Ausleben egoistischer Triebregungen, Treue zu den eingegangenen Bindungen___

Die Gegenhaltungen zur Selbstdisziplin bestehen im „Sich-ge-hen-Lassen", in Willensschwäche, Selbstverzärtelung, Verantwortungsscheu, Rücksichtslosigkeit, Unbeherrschtheit, Unverläßlich-keit. Immer ist dabei eine anmaßende Uberschätzung des eigenen Ichs und eine Geringschätzung der Mitmenschen, ihrer Leistungen und ihrer berechtigten Erwartungen von Gegenleistungen im Spiel.

Der Autor ist Univ.-Prof. für Erziehungswissenschaft in Konstanz.

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