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Der Mensch als Ganzheit braucht beides

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Für den Humanbiologen ist Religion, das Wissen um das dem (werdenden) Menschen eingeborene, unbewußte Gefühl und Ergriffensein vom beherrschenden Ur-Du und die sich daraus ergebenden, verantwortungsbewußten Haltungs- (Weltanschauung), Lebens- (religiöse Gebote) und Verhaltensweisen (Kult).

Das Ur-Du ist die schaffende, ordnende Macht (Gott), aus, mit und von der schon der werdende Mensch als „ein Fleisch“ in der paradiesisch geruhigen, sorglosen Geborgenheit, Einheit und Ganzheit im Mutterleib „gelebt wird“. Aus dem Ur-Du-Gefühl wird nach der Geburt das Du-Gefühl und Du-Bewußtsein. Das Ur-Du-Ge- fühl wird in das Unterbewußtsein verdrängt.

Unter Sozietät versteht der Humanbiologe das Zusammenleben von Menschen und seine Auswirkungen auf ihre Umwelt und In weit.

Der Mensch ist noch immer als Jäger und Sammler geprägt, seine Triebbündel zur Erhaltung seiner selbst und seiner Art kennzeichnen ihn als Gruppenwesen (und nicht als Herdentier).

Wie ist die Gemeinschaft?

Die Soziallehre beschäftigt sich mit der jeweiligen Zusammensetzung menschlicher Gesellschaften, ihren Lebensformen und Verhaltensweisen, sowie deren Auswirkungen. Sie erforscht die Begehren und Dränge (Wir-Trieb-Bündel) zu und in den Gemeinschaften.

Biologisch gesehen, befaßt sich die Gesellschaftslehre mit dem über das Wir-Trieb-Bündel gesteuerten (Trieb-) Leben, mit den psychosomatischen Beziehungen der Menschen zueinander und ihren nach Zeit, Ort und Gesellschaftsform so differenten Regelungen.

Die Religionslehre geht vom Ur- Du-Bewußtsein des einzelnen und seinem Du-Trieb-Bündel (Selbstverwirklichung) aus. Sie führt über das Ich- Bewußtsein und das Ich-Trieb-Bündel (Selbsterhaltung und Selbsterkenntnis) zum Wir-Trieb-Bündel, zur naturgemäßen Selbstbestätigung in Ehe, Familie und Sozietät. Religionslehre ist dementsprechend eine kulturelle, Gesellschaftslehre eine zivilisatorische Angelegenheit.

Zivilsation hat ja das Bestreben, der Menschheit das Leben höchst maximal leicht, bequem und angenehm zu gestalten, während das Bestreben der Kultur dahin geht, dem (einzelnen) Menschen oder Menschengruppen bestmögliche (optimal) geistige Werte zu schaffen oder zu vermitteln.

Auch die Seele braucht Nahrung

Damit ist bereits das unterschiedliche Lehrziel des Religionsunterrichtes einerseits und eines Unterrichtes in (etwa sozialistischer oder gar marxistischer) Soziallehre aufgezeigt.

Der Religionsunterricht hat dem Kinde jene seinem Alter entsprechende geistige Nahrung zu bieten, die seine Seele zu ihrer Entfaltung und sein Triebleben zu seiner gesunden Entwicklung braucht.

Der Mensch als Ganzheit besteht nun einmal aus den dynamisch-ambivalenten Komponenten Leib plus Geist und Seele (also das sich seiner selbst und seiner Umwelt und Inwelt bewußt Sein). Die Menschwerdung beginnt mit dem Freiwerden der Ur-Energie bei der Befruchtung; sie ist aber erst vollendet mit dem Mündigsein, also mit der sowohl somatischen als auch der psychischen Reife zur Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung und Erhaltung der Art in Ehe und Familie.

Die Menschwerdung ist in der Zivi- lisatipn ein sehr komplexer psychosomatischer Vorgang geworden, der einer sorgfältigen (individuellen) Hilfe durch Eltern und Erzieher bedarf. Es gilt, die psychischen Fähigkeiten des selbstlosen Liebens und der Lebenssinnfindung zu wecken und das während der Periode der Menschwerdung des öfteren labile Zusammenspiel der Funktionen des Leibes und der Seele (die Gesundheit) harmonisch zu gestalten. Die wesentlichen Funktionen der Seele sind das auch gefühlsmäßige Werten (Gut und Böse), das verantwortliche Entscheiden (Ja-, aber auch Neinsagen können) und das vernünf tige, vorausschauende Handeln (in Gewissensfreiheit).

Die Seele funktionstüchtig machen, ist die Aufgabe des Religionsunterrichtes. Seine Methodik besteht darin, zu überzeugen, daß und warum der Mensch (anders als das zwangsgesteuerte Tier) seine Begehren und Triebe sublimieren und selbst beherrschen lernen muß, um ein ganzer, ein mündiger Mensch werden zu können und daß das eine dem Leben Sinn gebende Aufgabe ist.

Demgegenüber ist es das Lehrziel der Gesellschaftslehre, die Menschen jeweils einem bevorzugten sozialen System einzureihen; ohne Rücksicht auf die „Natur“ des Menschen. Man glaubt dabei wieder einmal sein zu können wie Gott und sich über Seine Gesetze ungestraft hinwegsetzen oder sie ummanipulieren zu können. Trotz übelster Erfahrungen mit der unser Überleben bereits bedrohenden Umwelt- und Inweltverwüstung ist man noch immer nicht zur Einsicht gekommen, daß Gewöhnung und Anpassung biologisch zwei sehr verschiedene Paar Schuhe sind. Und daß das Leben nicht immer sofort reagiert, sondern oft erst nach langer Latenzzeit („Gottes Mühlen mahlen langsam ...“).

Sobald die Soziologie glaubt, ohne den ihr zugehörigen psychischen Faktor auszukommen, gerät sie in die Gefahr, zum Selbstzweck und damit zu einem Letalfaktor zu werden. So wie alles und jedes Begehren (Libido) - zum Selbstzweck geworden - über Sucht und Gier das Überleben bedrohen.

Regeln für die Gesundheit

Die Feststellung, daß Gesundheit das harmonische Zusammenspiel der Funktionen des Leib-Geietes und der Seele ist (mens sana in corpore säno) weist auf die Bedeutung hin, welche der Religion und dem Religionsunterricht fü r die Gesundheit der Menschen zukommt.

Sie ist besorgt um das harmonische Zusammenwirken der Funktionen von Leib und Seele - oder sollte es sein. Daher sind Tugenden, Gebote und Verbote der großen Religionen durchwegs Gesundheitsregeln. Das reicht vom biblischen Auftrag: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen (heute sagen die Fitneßärzte: Einmal im Tag mußt du schwitzen) über den ganzen Dekalog bis zu den Emährungs- und Fastengeboten der Weltreligionen. Die christlichen Tugenden sind Wege zur Zufriedenheit, diese aber ist das Pförtchen sowohl zum Glücklichsein als auch - nach neuesten Forschungen - zu langem Leben.

Die aus natumahem Gespür und aus mehrtausendjähriger Erfahrung gewachsenen Gebote, Verbote, Tabus sind den Naturgesetzen angepaßt, den Evolutionsgesetzen des Weltenschöpfers eingefügt, vom Anbeginn enthalten in Es werde! des Logos.

Dem Menschen ist Macht gegeben über die Natur, nicht aber über ihre Gesetze. Wann immer der Mensch diese seine Macht mißbraucht, sündigt er wider den Geist, den Willen des Schöpfers. Die Strafe folgt oft erst nach langer Latenzzeit. Wir mußten diese bittere Erfahrung mit der Umweltverschmutzung machen und machen sie derzeit wieder mit der Inweltverwüstung, u. a. der, welche Pädagogen anrichten, die glauben, alle Menschenkinder seien von Natur aus gleich und müßten ä la Prokrustes gleichgemacht werden. Nicht einmal auf den psychosomatischen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Wesen wird dabei Rücksicht genommen, geschweige denn, daß es ohne Spannungen, ohne Strömungen, ohne sie erzeugende Störgrößen (Eu-streß) kein Leben gibt.

Auch das ist Inweltverwüstung.

In der Ganzheitsmedizin beginnt man die Bedeutung der Religion und des Religionsunterrichtes bereits zu erkennen; die Gesundheitsvorsorge erfaßt seine Wichtigkeit als Grundlage der Erziehung zur Triebsublimierung und -beherrschung; selbst Soziologen weisen bereits auf die religiösen Verhaltensgebote hin; in der Geriatrie war Religion immer schon ein belächeltes, aber hochwillkommenes Hilfsmittel gegen Vereinsamung. Lediglich in der Pädagogik entdeckte man, von Freud irregeführt, die Entfaltung der Bewußtseinsebenen noch nicht, und daß auch sie, wie der Leib, eine der Altersund Entwicklungsstufe angepaßte Ernährung braucht

Ursprünglich waren Priester und Arzt in einer Person vereint, waren ein Ganzes. Die Spaltung in den nur kausal denkenden Arzt und den nur final denkenden Seelsorger führte zur Trennung und schließlich zur Polarisierung der beiden.

In der psychosomatischen und der präventiven Medizin kommt man mit den statischen, kausalen Entweder- oder-Denkmodellen nicht mehr aus; gesund : krank, objektiv : subjektiv, Leib : Seele sind im dynamisch-ambivalenten Leben keine Antagonisten, sondern wirken im sowohl als auch optimal zusammen.

So ist der Religion und dem Religionsunterricht - schon bei der Entwicklung der seelischen Funktionen - eine gewaltige' und verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, eine Aufgabe, welche die Pädagogik und die Soziologie ohne Hilfe der Religion nicht zu bewältigen vermag. Denn die lebensnotwendigen Funktionen des Ich- und vor allem des Du-Bewußtseins müssen bereits aktiviert sein, wenn das soziale Wir-Bewußtsein sich entfaltet, auf dem die Gesellschaftslehre aufbaut und die materiellen und psychischen Probleme einer Gruppe oder Masse zu lösen versucht.

Jede Soziologie ohne feste ethische und moralische Grundlage ist auf Sand gebaut, auf Flugsand, der von den Windstößen mißverstandener Gleichheit und mißbrauchter Freiheit davongeweht wird.

Zudem droht der Gesellschaftslehre - als Selbstzweck - die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung auf Großkollektive, auf Formen der Massengesellschaft. Der Mensch ist aber von Natur aus ein Gruppenwesen (und nicht ein Herdentier) und nur für die Kleingruppe programmiert. Das (Trieb-) 'Leben in Ballung und Vermassung schafft die wesentlichen Risikofaktoren und Letalfaktoren der Zivilisation und ihrer Krankheiten. So kann eine Soziallehre für eine, (überdies sehr leicht manipulierbare) Massengesellschaft zum Risikofaktor für ihr Überleben werden; wie der Untergang so mancher Kulturvölker ad oculos demonstriert.

Die Frage Religionsunterricht oder Soziallehre ist falsch gestellt. Die letztere ist keine Alternative zum Religionsunterricht. Sie muß auf ihm und seinen Grundwerten aufbauen, sonst hängt sie in der dünnen Luft irgendeiner lebensfremden Entweder- oder-Ideologie.

Die Antwort kann nur lauten: Sowohl Religionsunterricht als auch auf einem solchen als biologischer, also naturgemäßer Grundlage aufbauende Gesellschaftslehre.

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