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Auf der Suche nach dem neuen Wir-Gefiihl

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Deutschlands Helmut Kohl, Englands Tony Blair, Amerikas Bill Clinton und jetzt auch Österreichs Sozialdemokraten: Sie alle versuchen, den Gemeinsinn bei den Menschen wieder zu reaktivieren.Was steckt dahinter?

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Deutschlands Helmut Kohl, Englands Tony Blair, Amerikas Bill Clinton und jetzt auch Österreichs Sozialdemokraten: Sie alle versuchen, den Gemeinsinn bei den Menschen wieder zu reaktivieren.Was steckt dahinter?

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In den westlichen Gesellschaften hat ein Wertwandlungsschub von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten stattgefunden. Diverse Kritiker schreiben diesen Gesellschaften einen auf die Spitze getriebenen Individualismus zu, dem es nur um die Steigerung des eigenen Lebensgenusses geht. Ob Bill Clinton, Helmut Kohl, Tony Blair und seit neuestem auch Österreichs Sozialdemokraten: Angesichts eines drohenden Auflösungsprozesses gesellschaftlicher Bindungen suchen derzeit auch viele Politiker nach Grundlagen eines neuen, solidaritäts-stiftenden „Wir”-Gefühls.

Hinter dem Bemühen um diese Beaktivierung des Gemeinsinns steht die grundsätzlich ethische Frage, wie sich Selbstverwirklichung und Gemeinwohl, das Streben nach persönlicher Authentizität und die Forderung nach Solidarität zueinander verhalten.

Es steht nämlich schlecht um den guten Buf von „Selbstverwirklichung”: Für viele ist dieser Begriff ein moralisch anrüchiges Beizwort, das zur Bechtfertigung ausgeprägter Ich-Bezogenheit dient. Besonders in der Alltagssprache sind der abwertende Gebrauch von „Selbstverwirklichung” und die negative Konnotation, der ungünstige Gefühlswert, der diesen Terminus begleitet, weit verbreitet. Wenn eine Frau sich selbst verwirklicht, so lautet eine gängige Vorstellung, löst sie bestehende Bindungen auf, läßt Ehemann und Kinder im Stich, gibt sich zügellos eigener Karriere und ihren Bedürfnissen nach Vergnügen, Lust und Abenteuer hin.

Wenn von einem Mann behauptet wird, er verwirkliche sich selbst, assoziiert man damit häufig die exzessive Suche nach berauschenden neuen Erlebnissen, verbunden mit genußsüchtiger Verantwortungslosigkeit. Spätestens in den Jahren der Midlife-crisis, so wird vermutet, trennen sich diese „ Selbstverwirklicher” rücksichtslos von ihrer Familie und versuchen, den zweiten Frühling mit einer Frau auszukosten, die vom Alter her seine Tochter sein könnte.

Diese Mißbilligung von Selbstverwirklichung in der Alltagssprache wird ergänzt durch eine linke und rechte akademische Kulturkritik, die auch im kirchlichen Baum verbreitet ist. Für sie sind Begriffe wie Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung und Selbsterfahrung mit dem Odium der Selbstbezogenheit, Ich-Verliebtheit, des psychologisch oder spirituell verbrämten Egotrips behaftet und deshalb suspekt.

Die Gegner des Selbstverwirklichungskonzeptes haben in vielen Fällen recht: Häufig wird die Suche nach Selbstverwirklichung zu einer „Egoismus-Falle” (Ursula Nuber), ist sie nichts anderes als eine Art „Tanz um das goldene Selbst” (Ulrich Beck). Dennoch: Bei aller Kritik an einem inadäquaten, atomistischen Verständnis von Selbstverwirklichung darf man nicht übersehen, daß im darin enthaltenen menschlichen Streben nach Authentizität ein berechtigtes moralisches Anliegen zur Sprache kommt.

In der Suche nach Persönlichkeitsvertiefung und im Bemühen, der je eigenen Originalität treu zu sein, steckt ein unabweisbares Wahrheitsmoment. Nach dem Verständnis der christlichen Anthropologie, die den Menschen als Individual- und Sozialwesen begreift, kann die Entfaltung der Persönlichkeit allerdings nur in mitmenschlicher Bezogenheit und gegenseitiger Begrenzung gelingen, in sozialer Verantwortung und Solidarität mit dem Nächsten. Sie muß dialogisch und kommunikativ, kom-munitär und gemeinwohlorientiert

Die Gemeinwohlforderung der Katholischen Soziallehre weist darauf hin, daß es unrecht ist, wenn in menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften einzelne oder Gruppen egoistisch auf Kosten anderer leben. Denn das Gemeinwohl zielt auf das Glück oder die Lebenszufriedenheit aller einzelnen in Gegenwart und Zukunft.

Es ist selbstverständlich berechtigt und sogar notwendig, eigene Interessen zu vertreten. Aber selbst legitime Interessen des einen konkurrieren nicht selten mit denen eines anderen. Mitmenschen und ihre Ansprüche bedeuten für den einzelnen, daß er Rücksicht nehmen soll, Kompromisse eingehen wird, in manchen Fällen auf etwas verzichten muß.

Selbstbegrenzung und Selbstverpflichtung stehen allerdings zu Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung in keinem Widerspruch. Im Gegenteil: Vertreter des sogenannten „Kommunitarismus”, eines am Gemeinsinn orientierten nordamerikanischen Denkansatzes, haben zu Recht darauf hingewiesen, daß Pflichten ein Teil dessen sind, was das Selbst konstituiert.

„Authentizität ist nicht der Feind von Forderungen, die außerhalb des Selbst herkommen; sie setzt solche Forderungen voraus”, schreibt der kanadische Philosoph Charles Taylor, einer der bedeutendsten Kommunita-rier. Und nach dem Schweizer Psychiater und Psychotherapeuten Jürg Willi kann der einzelne gerade auch an den Grenzen, die Mitmenschen ihm setzen, zu sich selber finden und eigene Kräfte mobilisieren.

Selbstbegrenzung und Selbstver-pflichtung müssen in den gesellschaftlichen Bahmenbedingungen und Strukturen festgeschrieben werden, damit gesellschaftliches Zusammenleben und ökologisches Überleben gelingen. Selbstbegrenzung ”und $elbstverpflicritung können aber auch viel dazu beitragen, damit das Leben des einzelnen glückt. Dies allerdings nur, wenn sie nicht in Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstverachtung wurzeln, sondern Ausdruck von Selbstannahme und Selbstwertschätzung sind.

In einer Ansprache an die Teilnehmer eines Psychotherapeutenkongresses im Jahre 1953 erklärte Papst Pius XII., daß es eine Selbstachtung und eine Selbstliebe gebe, „die nicht nur berechtigt, sondern von der Psychologie und vom Sittengesetz gefordert sind.” Der Papst steht damit in der Tradition der Bibel (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) und Thomas von Aquins, der von einer zulässigen, ja gebotenen christlichen Selbstliebe als der Grundlage von Freundschaft und Nächstenliebe spricht.

Pius befindet sich aber auch in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Ansichten von Psychologen und Psychotherapeuten wie Abraham Maslow, Carl Bogers und Erich Fromm. Wer sjch selbst verachtet, weil er kein anderer ist, wer sich zum Fußabstreifer degradieren läßt, wer unberechtigte Ansprüche niemals zurückweist, handelt nicht christlich.

Bichtig verstandene Selbstliebe und Persönlichkeitsentfaltung sind kein Nullsummenspiel: Der eine verliert nicht, was der andere gewinnt. Im Gegenteil: Die Optimierung des Gemeinwohls wird nur dann gelingen, wenn dem einzelnen Menschen das möglich ist, was Bomano Guardini die „Annahme seiner selbst” nannte: „An der Wurzel von allem liegt der Akt, durch den ich mich selbst annehme. Ich soll damit einverstanden sein, der zu sein, der ich bin.” Und er fährt fort: „Die Achtung des Menschen vor sich selbst muß geradezu neu entdeckt werden ... Kein Totali-tarismus würde gelingen, wenn etwas im Menschen nicht mit seiner eigenen Entehrung einverstanden wäre.”

Werrich selbst nicht achtet und mag, wer es mit sich selbst nicht aushält, wer die Entwicklung und gesunde Wertschätzung, die Ausweitung und Vertiefung der eigenen Persönlichkeit vernachlässigt, ist auch für andere meist weniger hilfreich, als er oder sie es sein könnte. Die Altruismusforschung hat nämlich gezeigt, daß Menschen mit größerer Selbstakzeptierung und höherem Selbstwertgefühl in der Begel prosozialer, gemeinwohlorientierter handeln als andere. Sehr oft besitzen sie auch eine größere Fähigkeit, ihr eigenes Selbst zu transzendieren und mit Selbstbegrenzungen konstruktiv umzugehen.

Sich selbst finden durch andere Menschen

Der Gemeinwohlgedanke weist darauf hin, daß menschliche Möglichkeiten im Deutehorizont des Christlichen immer (den anderen Menschen und letztlich Gott) verdankte Möglichkeiten sind. Das gilt auch für die Fähigkeit der Selbstannahme und Selbstwertschätzung. Hier schließt sich der Kreis: Der wohlwollende Umgang eines Menschen mit sich selbst (und damit auch anderen) wird entscheidend ermöglicht durch die vorgängige Erfahrung des Geliebtseins, des Vertrauens, der Anerkennung, der Akzeptanz. Die unmittelbaren Bezugspersonen, die sogenannten „signifikanten anderen” sind dabei besonders in der Kindheit von entscheidender Bedeutung. „Nur durch andere können wir zu uns selbst finden”, schreibt das österreichisch-amerikanische Soziologenehepaar Brigitte und Peter Berger. „Ja, noch spezifischer, nur durch signifikante andere bekommen wir auch ein signifikantes Verhältnis zu uns selbst.”

Und mit einem Augenzwinkern fügen die Bergers hinzu: „Unter anderem deshalb sollte man vorsichtig bei der Wahl seiner Eltern sein.” Der Autor ist

Universitätsassistent am Institut für Ethik und Sozialwissenschaft der Katholisch- Theologischen Fakultät in Graz

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